Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Blaues Blut | November 2011
Treue, Liebe, Hoffnung
von Bernd Kleber

„Pressen, pressen, na, nun ham´ Se sich mal nich´ so, los pressen ...“, krähte die Hebamme. Jegliches floss in eine Richtung, bäumte sich zu Wellen auf, kam nicht weiter, wurde wie in einem Staubecken gehalten. Der Druck führte zu einer alles verzeihenden Ohnmacht. Bis das kleine zarte Wesen schrie, als es in die Kälte der Welt geschleudert war.

„Du bist etwas ganz Besonderes, meine Kleine, glaube mir. Schon allein dein Titel verpflichtet. Du hast blaues Blut. Sei stets ein Vorbild, anständig und untadelig. Üb Treu und Redlichkeit!“
„Wieso besonders?“, maulte sie. „Was kann da schon besonders sein?“
„Dein Blut! Von Generationen, das in deinen Adern fließt, muss dir Verpflichtung sein. Geh´ spielen Kind, mach dich aber nicht schmutzig!“

Ihre Eltern hingen da. Baumelten friedlich wie Marionetten auf dem Speicher. Wenn man am Seil wackeln würde, käme wieder Leben in sie. Angst vor dem, was anrückte. Die Furcht vor der neuen Zeit. Sie tastete ihren Blick von den ausgestreckten Füßen hoch zu den blauen Zungen, die sie herausstreckten. Blau!
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie konnte sich nicht regen. Das Blut in ihren Adern nahm Geschwindigkeit auf, bis sie zusammensackte und umfiel. Verabschieden! Loslassen! Sie würde zu ihren Verwandten fliehen. Der Schmerz in ihrer Brust verging nie.

Der Treck sollte über das Haff geführt werden. „Nein!“, hatte sie zu ihrem Bauern gesagt. „Da stapfen wir nicht mit. Lieber falle ich in die Hände des Russen. Lass uns über die Landzunge gehen, Karl.“ Sie folgte ihrem Blut, sie traf eine bewusste Entscheidung. Hart musste sie jetzt sein, wollte sie in diesen Tagen überleben. Ihr Blut rauschte in den Schläfen, Kopfschmerz breitete sich aus.

Man erzählte sich furchtbare Gräuel. Der Flüchtlingstreck war unters Eis geraten! So viele ertrunken. Wer herauskam, erfror. Die Russen hatten sich über eisige Frauenleiber hergemacht. Schrecklich, was für eine Schande, was für eine Zeit. Alte Werte bedeuteten nichts mehr. Sie hatte Glück gehabt. Ihr Blut hatte ihr richtig empfohlen, der Umweg bewahrte sie, hatte sie bis nach Hessen kommen lassen, in das Schloss ihrer Tante.

Der Tod. Immer wieder trennt der Tod Menschen. Diese Trennungen für immer, unwiderruflich, ließen sie jedes Mal verzweifeln. Warum hatte man nicht einen Schalter, den man einfach umkippen konnte? Die Gefühle, den Schmerz ausknipsen? Das Loslassen fiel ihr schwer. Sie hing an alten Werten, wie an lieben Gegenständen. Sie klammerte fest, was sie in ihr Herz geschlossen hatte. Ihre Tante gehen zu lassen, war, als risse ihr jemand das Organ entzwei, welches das Lebensfluid durch ihren Körper drängte. Das, was so besonders sein soll, das was rot aussah, wenn sie sich eine Verletzung zuzog. Nicht blau!

Wieder ein Riss, ein Riss in die vertraute Welt. Ihr Kind ging studieren in diese weit entfernte Stadt. Warum bis auf einen anderen Kontinent? Wie sollte sie bei dieser Entfernung Einfluss nehmen, Werte vermitteln, schützend Mutter sein? Ein Schrei in ihre Kissen in der Nacht vor dem Loslassen, das sie nicht konnte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herzschlag war laut wie die Paukenschläge des Fähnrichs in der großen Schlacht. Das Weinen wollte nicht enden. Trocken und sandig brannten ihre Augen. In ihr alles blau, Hämatome der Seele.

Die Hand des Partners, so vertraut wie ein eigenes Muttermal, hielt sie schmerzhaft fest. Er beugte sich auf, röchelte, sah sie starr an. Forderte plötzlich: „Mathilde!“ Der Name seiner Mutter. Dann barst er. Tat einen letzten bemerkenswerten Seufzer und Ruhe breitete sich für einen Moment im Schlafgemach aus. Ihr Herz stand still, bis sich wieder das Blut staute und zu einer großen Flutwelle anstieg, an Schläfen und Brust brach und sich in einem Rauschen vermischte mit dem Schrei aus tiefster Seele, der sich Bahn spie. Sie fiel auf seinen Oberkörper, krallte sich weiter an seine Hand und brüllte wie eine, die ihren Verstand verlor. Zwei Dienstmädchen konnten die Alte nicht vom Bett zerren. Das Blut, das Band, zog sie wie ein Magnet immer wieder auf seinen Körper. Der Leib des Mannes, der sie hierher über die Halbinsel gebracht hatte, der ihr in all den Jahren ein Partner war. Der ohne Stammbaum und Titel ein Mensch mit Herz und Blut war. Rotem warmem Blut!

Ein Klingeln des Postboten. Ein Einschreiben! Dann unendliche Stille. Der fallende Brief erzeugte in ihr einen Klang, als wäre das Papier vom Gewicht einer Holzbohle. Ihr Mund geöffnet. Kein Atemzug. Sie sah in das Dunkel. Die Nacht hüllte sie ein wie in ein Trauertuch. Sie lauschte einem Wispern aus sich selbst. Es war das Raunen ihres Lebenssaftes, der weiter kaprizierte. Der, bis vor einen Augenblick in seinen Gefäßen keine Bewegung mehr gezeitigt hatte, erstarrt war wie das Atmen. Dann glitt sie auf den Boden und schrie. Schrie! Schrie nach ihrem Kind und schrie, bis die Pfleger kamen und die kreischende Frau in den Krankenwagen schoben. Das Blut stand immer noch still, rührte sich nicht, wollte nicht fließen, wollte stocken, bis der Elektroschlag des Defibrillators die Lebenspumpe anwarf. Das Blut war wieder im Fluss, nicht das Leben.

Sie liegt in diesem Bett. So lange schon. Die Binden, die ihre Arme am Gestell arretieren, schmerzen, schneiden in die zarte Haut. Das rote Blut färbt das Mullweiß. Die Mundwinkel sind trocken, die Zunge lederig. An ihrem Bett wird sie all ihrer Nächsten gewahr, die sie verlassen hatten. Sie muss Abschied nehmen. Kann es nicht. Hält fest, am Hier und Jetzt. Hört ihr schweres Rasseln beim Atmen. Sie ist etwas Besonderes. Sie schaut in ihr Herz, Erinnerung an die alte Heimat, an die Geschichten ihrer Mutter, ihr Erbe und sieht das blaue Blut.
Blau wie ein Himmel im Frühsommer, blau wie die Tinte auf dem Briefpapier an den Geliebten, blau wie der Druck des Stoffes für die Babywiege, blau wie die Treue zu dem eigenen Leben. Es war die Treue zu sich selbst, die Zuversicht: Die Kraft, die Mensch in sich trägt, weiterzugehen, wenn es kaum noch möglich ist. Die Treue, die alle Menschen miteinander in einem festen Band verknüpft, färbt blau. Das Herz, das Blut, die Seele. Kein Unterschied zwischen sich und jedem anderen Menschen, der liebt, der vermisst. Blau, die Treue, in Liebe von Generationen an die nächste weitergegeben. Nein, sie ist nichts Besonderes, sie hat nur dieses leuchtende Blau in sich. Es rauscht wieder in ihren Schläfen, stürmt voran. Ihr wird heiß und ein Licht kommt ihr entgegen, sie einzulullen in Wärme. Das Blau verblasst. Sie vergisst ...

Letzte Aktualisierung: 13.11.2011 - 20.54 Uhr
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