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Blaues Blut | November 2011

Das blaue Wunder
von Susanne Ruitenberg

„Bring den ersten Proband herein.“
„Wollen wir das wirklich durchziehen?“
„Kriegst du jetzt etwa kalte Füße, so kurz vor dem Ziel? Alle Tests zeigen, dass es funktionieren wird.“
„Ja, aber was, wenn es doch Nebenwirkungen ... ich meine, das waren ja bisher bloß Tiere. Und es ist nicht legal.“
„Ach komm schon, er ist im Endstadium und wird sowieso die Woche nicht überleben. Denk an den Nobelpreis. Der ist uns so gut wie sicher. Die werden ihr blaues Wunder erleben, vor allem diejenigen, die sich mit ihren Giftcocktails eine goldene Nase verdienen.“
„Du bist skrupellos. Ich kann das nicht verantworten, ich steige aus.“
„Wie du willst.“
„He, was machst du da? Nein, lass das, ich ...“

* * *
Der Journalist sortiert seine Karten und blickt in die Kamera. „Sehr geehrte Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir Dr. Rainer Mertens, der im letzten Monat den Nobelpreis für Medizin erhalten hat für seine bahnbrechende neue Heilungsmethode bei Tumoren. Herr Dr. Mertens, erlauben Sie mir zunächst, Ihnen meine herzlichen Glückwünsche auszusprechen. Dass Sie damals, nach dem Laborunfall Ihres Bruders - Zwillingsbruders noch dazu, mit der gleichen Energie weitermachten - nun, die ganze Welt bewundert Sie dafür.“
Der Arzt fährt sich ordnend über das Haar, obwohl keine einzige Strähne der ordentlichen Frisur zu entfliehen versucht. „Danke für Ihre Worte. Wissen Sie, ich war es Rüdiger schuldig, unser Werk zu Ende zu führen. Den Preis widme ich ihm, der mir so viele Jahre lang zur Seite gestanden hat. Ohne ihn hätte ich die Methode nicht entwickeln können.“
„Lassen Sie mich das Ganze für unsere Zuschauer kurz zusammenfassen: Dem Patienten werden genauestens programmierte Nanobots eingespritzt. Das sind, für alle, die es noch nicht nachgelesen haben in den letzten Wochen, winzigste Roboterchen. Sie bewegen sich durch die Blutbahn, finden den Tumor und zerstören ihn. Habe ich das richtig wiedergegeben, Herr Dr. Mertens?“
„Stark vereinfacht, aber ja, genau so funktioniert es.“
„Das bedeutet, Krebs ist heilbar. Absolut heilbar. Ist das nicht der Pharmaindustrie ein Dorn im Auge?“
„Klar, diejenigen, die bisher mit teuren Chemotherapien und Ähnlichem den großen Reibach machten, müssen sich nach anderen Einnahmequellen umsehen. Es gibt jedoch genügend unbestellte Felder, denen sie sich mit aller Energie widmen können.“
„Wäre es nicht denkbar, die Nanos auch für weitere Krankheiten zu programmieren?“
Mertens nickte. „Aber sicher. Und ich verrate Ihnen exklusiv die große Neuigkeit. Unsere Medibots Generation II werden selbständig im Körper des Erkrankten Fehler aufspüren und diese beheben. Wie das im Detail abläuft, kann ich an dieser Stelle nicht erklären, das ist zu kompliziert. Aber demnächst werden wir mit der ersten Testreihe starten.

* * *

„Kneif mich.“
„Du träumst nicht. Es ist wahr.“ Er nimmt ihre Hand.
Der Mann und die Frau stehen am Fenster und können ihre Augen nicht vom Garten abwenden. Drei Kinder toben dort mit einem Ball herum. Ein blonder Junge ist deutlich dünner als die anderen. Er weist eine vage Ähnlichkeit auf mit einem Foto auf dem Sideboard: Ein traurig dreinblickendes, völlig verknotetes Wrack eines Kindes, das schief im Rollstuhl hängt und beatmet wird.
Der Junge fängt den Ball, klemmt ihn sich unter den Arm und rennt los. „Eispause! Wer als erster drin ist, kriegt die größte Portion!“
Lachend stürmen die Kinder ins Wohnzimmer. Einer der Buben macht eine Vollbremsung und deutet auf das Foto. „Ey, wer ist das denn?“
Der Blonde kippt das Foto um. „Nur ein Cousin von mir. Unwichtig. Mama, kriegen wir ein Eis?“ Er starrt seine Mutter an. Sie versteht. Fröhlich ruft sie: „Ich habe Vanille, Erdbeere und Schokolade, kommt ihr mit?“
Als sie das Wohnzimmer verlassen haben, nimmt der Mann das Foto, streicht einmal zärtlich darüber, und verstaut es in der untersten Schublade.

* * *

Die Schlagzeilen überschlagen sich.
„Ungeahnte Heilungserfolge.“
„Er kann laufen, ruft die Mutter gerührt.“
„Wir müssen ihn Dr. Jesus nennen, denn er heilt ALLE. Egal ob blind, lahm oder völlig funktionsuntüchtig. Unglaublich.“
Mertens ist Gott. Die Welt trägt ihn auf Händen.

* * *

Ein Quietschen, ein Krachen, Glasscherben klirren zu Boden. Langsam, wie in Zeitlupe, kullert eine Radkappe über die Straße, dreht sich ein paar Mal und bleibt liegen.
Als Passanten den Fahrer des einen Autos vorsichtig aus dem Wrack ziehen, erschrecken sie. Er ist blutüberströmt, sicher, das war zu erwarten. Nicht jedoch, dass das Blut die Farbe königsblauer Tinte hat.

Das ist erst der Anfang.

Der erste Junge, der, schon fast tot durch ALS, mit den neuen Medibots behandelt wurde, liegt eines Morgens kalt und steif im Bett. Seine Haut schimmert bläulich, metallisch. Beim Obduktionsversuch bricht dem Pathologen das Skalpell ab. Als er mithilfe einer Kettensäge den Torso öffnet, ist alles Blau.
Eine Schwangere stolpert auf der Kliniktreppe, als sie, schon mit Wehen, zur Aufnahme gehen will. In einem blauen Schwall schießt ein glänzendes Etwas ans Licht, das vage an eine Metallpuppe erinnert.
Überall auf der Welt brechen Menschen zusammen. Flugzeuge fallen vom Himmel, weil die Piloten plötzlich erstarren.
Die Schlagzeilen bleiben aus. Es gibt bald niemanden mehr, der sie schreiben könnte.
Mertens ist unauffindbar, als eine Gruppe von Klinikärzten ihn befragen will. Kurz danach brennt sein Labor ab.

In einer kleinen Stadt in Afrika blättert eine Frau in einer alten Zeitschrift, die ein Tourist verloren haben muss. „Wundermittel übertrifft alle Erwartungen“, lautet die Überschrift des Leitartikels. Seufzend wirft sie das Heft in den nächsten Müllcontainer. Solche Mittel werden für uns sowieso nie bezahlbar sein, denkt sie, und dass sie, wenn sie sich sehr diszipliniert, im nächsten oder übernächsten Monat vielleicht leisten kann, ihren Jüngsten impfen zu lassen.
„Wunder“, murmelt sie, „Wunder gibt es nur bei denen da oben.“


©Susanne Ruitenberg
Version 1

Letzte Aktualisierung: 21.11.2011 - 15.55 Uhr
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