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Blaues Blut | November 2011

Tintenherz
von Ingo Pietsch

Washington Monumental
Der Präsident war umringt von Angehörigen des Secret Service, als er die Tribüne hochging. Ihm brandeten Beifall und Willkommensrufe entgegen.
Charles Trenton, der Sicherheitschef, folgte ihm.
Am Pult stand ein bekannter Talkmaster und kündigte den Präsidenten an.
„Trenton, leihen Sie mir ihren Kugelschreiber. Ich will in meiner Rede etwas streichen.“
Trenton kramte einen Füller aus seinem Jackett. „Den hätte ich gerne wieder.“
Der Präsident nahm das antike Schreibutensil, faltete seine Rede auf und strich einen Satz weg. Dann steckte er sich den Füller in die linke Brusttasche.
„Und es kann auch wirklich nichts schiefgehen?“, fragte er Trenton.
„Natürlich nicht, Mr. President. Unsere Leute sind überall. Es ist alles genau durchgeplant.“
Das Staatsoberhaupt nickte Trenton zu, ging zum Mikrofon und begann seine Ansprache.

Penelope Martinez achtete auf die kleine LED an der Oberseite der Kamera. Als sie aufleuchtete, begann sie zu sprechen: „Ich stehe hier direkt unter der riesigen Tribüne, die speziell für die Ansprache des Präsidenten errichtet wurde. Rund einhunderttausend Menschen haben sich eingefunden, um bei der Rede dabeizusein, die der Präsident heute halten wird.“
Penelope konnte auf dem kleinen Monitor vor ihr sehen, dass der Regisseur auf eine andere Perspektive umgeschaltet hatte. Tausende Amerikaner jubelten.
„Es ist eine unglaublich, was hier auf die Beine gestellt wurde. Die Ausmaße der Tribüne und Sitzreihen übertreffen die eines Football-Stadions. Warum der Präsident unbedingt mit einem so gewaltigen Kontingent in der Öffentlichkeit auftritt, anstatt vom Weißen Haus aus zu sprechen, wird sich klären. Seine Rede soll von monumentaler Bedeutung sein. Er wird direkt unter dem Washingtoner Obelisken stehen. Auch die Sicherheitsauflagen übersteigen alles je Dagewesene. Aber die Gegner seiner Politik haben sich gemehrt. Schon im Vorfeld gab es Morddrohungen. Unser neuer Präsident ist einer der jüngsten in der Geschichte des Landes.“ Verschiedene Fotos erschienen auf dem Monitor, während Penelope weitersprach. „Er ist direkt, er ist volksnah und charismatisch. Und das Volk liebt ihn.“ Auf dem kleinen Bildschirm war jetzt der Präsident zu sehen, als er ans Mikrofon trat.
„Der Präsident beginnt jetzt mit seiner Ansprache. Penelope Martinez für Satellite Network News.“ Sie hielt ihr Mikrofon zu Seite und sah nach oben. Schlagartig war es auf dem riesigen Platz still geworden.
„Liebe Amerikaner. Ich stehe hier auf diesem Platz, weil es uns alle angeht. Es ist keine Geheimnis: Die USA stecken in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Aufgrund dessen und um die einmalige Chance zu nutzen, den Weltfrieden zu sichern, werden wir als erstes Land der Erde unsere Atomwaffen vernichten und auch keine weiteren produzieren. Dadurch werden wir nicht angreifbarer und wir hoffen, dass wir als gutes Beispiel vorausgehen.“
Jubel brach zunächst verhalten, nur aus einer Ecke hervor und verbreitete sich schließlich auf dem ganzen Platz.
„Es ist unglaublich, was der Präsident gerade bekanntgegeben hat. Die USA fahren ihre Rüstung zurück!“ Penelope konnte auf ihrem Monitor den Präsidenten sehen, wie er tief Luft holte und weiterreden wollte. Gerade als er wieder das Mikro erreicht hatte, wurde er nach hinten geschleudert. Einen Sekundenbruchteil später hallte ein Schuss nach.
Penelope konnte gerade noch sehen, wie sich Agenten auf den Präsidenten stürzten, um ihn zu schützen. Dann wurde sie von panischen Menschen gestoßen. Sie schlug gegen die Kamera und zog sich eine Platzwunde zu.
„Weiterfilmen!“, rief sie mit zusammengepressten Zähnen. Sie hielt sich kurz den Kopf und wischte die blutige Hand an ihrer Hose ab. „Los, nach oben!“
Der Kameramann zögerte keinen Moment und bahnte sich den Weg hinter ihr durch die dichtgedrängte Menge.
Die Sicherheitskräfte hatten Mühe, die außer Kontrolle geratene Menschenmasse zu bändigen. Selbst die Notausgänge für Mitarbeiter waren verstopft.
Penelope und ihr Kollege schafften es aber trotzdem nicht auf die Tribüne. Sie erkämpften sich den Weg hinter die Bühne, wo es etwas ruhiger zuging. Sie wurden kaum beachtet, weil alle mit dem Präsidenten beschäftigt waren, der auf einer Trage lag.
Alles was der Kameramann filmte, wurde live ins amerikanische Fernsehen übertragen: Ein Arzt und Charles Trenton beugten sich über den Präsidenten. Als sie bemerkt wurden, sah Trenton auf. „Was machen Sie hier?“
Penelope konnte einen Blick auf den Präsidenten erhaschen. Blaues Blut sickerte dickflüssig aus seiner Brustwunde. Der Kameramann hatte alles gefilmt.
Trenton hantierte nicht sichtbar für die beiden an etwas herum.
Penelope war angesichts des blauen Blutes fassungslos: „Wie kann das sein?“
Trenton kam mit Secret-Service Agenten auf die beiden zu. Er hielt einen zerbrochenen Füller vor die Linse und bemerkte: „Der Präsident trägt eine schusssichere Weste. Die Kugel hat den Füller getroffen und deswegen ist alles voller blauer Tinte. Haben Sie jetzt genug gesehen?“
Penelope konnte den Präsidenten noch sehen, wie er sich aufrichtete und gequält in ihre Richtung lächelte und mit der Hand winkte, als wäre alles in Ordnung.
Dann wurden Penelope und ihr Kameramann nach draußen gebracht.

Charles Trenton saß vor dem Kaminfeuer in seinem Sessel und schwenkte ein Whiskeyglas hin und her. Er betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit und ließ den Tag Revue passieren.
Das fingierte Attentat unterstrich das Anliegen des Präsidenten. Andere Länder mussten ihrem Beispiel der Abrüstung folgen. Damit war die nächste Phase des Plans angelaufen.
Trentons Herz klopfte vor Aufregung. Beinahe wäre alles schief gelaufen. Die Kugel hatte die Schutzweste durchschlagen und dann war noch die Reporterin mit ihrem Kameramann aufgetaucht. Trenton fasste sich an die Brust und fühlte die Reste des Füllers, den er selbst zerbrochen hatte. Er lehnte sich entspannter zurück.

Letzte Aktualisierung: 27.11.2011 - 12.14 Uhr
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