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Blaues Blut | November 2011

Die Liebe ist eine Königin
von Jochen Ruscheweyh

Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie geräumig der Kehlsack eines Pelikans sein kann, bis ich eines Nachmittags in Pelles hörnernen Schnabel kletterte. Noch ehe ich es mir richtig bequem gemacht hatte, hob er uns mit kräftigen Flügelschlägen empor, bis wir in einer zuckerwatteähnlichen Wolke verschwanden, die mir so weich und weiß wie Pelles Gefieder vorkam.
Als wir zur Landung ansetzten, sah ich Petzi und Pingo bereits an der Reling des Schiffes stehen, das zweifellos die Mary sein musste, glich sie doch haargenau dem Dampfer, auf dem Carla und Vilhelm Hansen Petzi und seine Freunde in über 40 Comic-Bänden die Weltmeere und -flüsse bereisen ließen.
Nur war ich mittlerweile erwachsen und besagte Comic-Bände lagerten in meinem feuchten Keller - gut in Plastik-Kisten verpackt und je mit einem Seifenstück als Zugabe versehen.

„Na, wen hast du uns denn da mitgebracht, Pelle?“, fragte Petzi.
„Ich finde, er sieht gar nicht gut aus, was, Petzi?“, ergänzte Pelle.
„Nein“, schüttelte Petzi den Kopf, „gar nicht gut. Obwohl ... tun das nicht alle Menschen, nicht gut aussehen?“
Dann huschte ein pelziges Lächeln über sein Bärengesicht: „Wisst ihr was? Mein Großvater sagt immer, wenn du bis zum Kopf in Schwierigkeiten steckst, back’ einen Stapel Pfannkuchen, der größer ist als du!“
„Ja, prima, Pfannkuchen!“ Pingo klatschte so fest in die Flossen, dass Papagei von seiner Stange fiel und rücklings auf die hölzernen Schiffsplanken der Mary klatschte.

Natürlich musste ich die Geschichte meiner unglücklichen Liebe ausführlich und gleich zweimal erzählen, aber mit jedem sirupgetränkten Pfannkuchen fiel es mir leichter. Und als ich schließlich auch noch eine Riesenportion Vanilleeis mit Erdbeeren und Sahne in mich hineingelöffelt hatte, fühlte ich mich so wohl wie seit Langem nicht mehr.
„Du bist ein guter Mensch, und diese Elena hat dich einfach nicht verdient!“, fasste Petzi in einem Satz zusammen, was wohl alle in der Kombüse der Mary dachten.
„Genau!“, bestätigte Pingo, „Du sollst nicht genug Komplimente machen? Du bist doch gerade aus Pelles Schnabel gehüpft, da hast du mich schon wegen meines Fracks und meiner Fliege mit Schmeicheleien überhäuft!“
„Elena ist eine Ziege!“, warf Pelle ein, jetzt wieder sprechfähig, da ich seinem Unterschnabel entstiegen war. Und als wollte er seinen Beitrag unterstreichen, warf er den Kopf zurück und ließ den typischen Laut einer Hippe erklingen.
„Aber ich liebe sie doch noch!“, entgegnete ich.
Seebär zog an seiner Pfeife und ließ seinen Seehundsbart hinter Rauchschwaden verschwinden. „Hmm“, brummte er durch den süßlichen Nebel, „ich würde noch einmal in Ruhe darüber nachdenken.“ Er gab seinem Schaukelstuhl einen Schubs und wippte jetzt locker vor und zurück. „Schließlich hat sie mit dir Schluss gemacht. Wie sagte sie noch gleich? Sie braucht einen Mann, der zupacken kann!“
Die beruhigende Wirkung der Pfannkuchen mit Eis ließ langsam nach, und mein Ungemach manifestierte sich in handfesten Bauchschmerzen. Pelle schien das zu spüren, legte einen Flügel auf meine Schulter und sagte: „Nimm dir noch ein paar kandierte Weintrauben aus meinem Sack, und dann wollen wir dir etwas zeigen!“
Die völlig übersüßten Früchte strahlten eine wohlige Wärme in meinem Magen aus, während ich mit einem riesigen Drehmomentschlüssel, den Pelle aus den Tiefen seines Kehlsacks hervorgezaubert hatte, den Motor der Mary flott machte. Sonst – so Petzi – konnten wir schließlich nicht in See stechen.

Gegen Nachmittag erreichten wir Känguru Hopplahopps Zauberhöhle. Ich steuerte die Mary einhändig durch den engen Flussarm, während ich mit der anderen Hand das fast fertige Gulasch durchrührte, das Seebär freundlich aber bestimmt als Wegzehrung eingefordert hatte.
Hopplahopp führte uns durch einen Vorhang von Lianen in eine kleine Nebenhöhle, in der ein gläserner Kasten stand, in dem eine wunderschöne Frau lag.
„Wer ist das?“, fragte ich.
Hopplahopp schaute ein wenig betreten auf den Boden und zog sich dann langsam zurück, während Petzi seine Hosenträger spannte und sie dann gegen seinen Bauch schnacken ließ.
„Die Liebe ist eine Königin“, sagte er, „Aber ihr Blut ist blau geworden.“
„Haben Königinnen nicht immer blaues Blut?“, erkundigte ich mich.
Petzi wackelte mit seiner Tatze, was so viel wie Nein hieß, wie Pelle mir am Mittag erklärt hatte.
„Du hast mich nicht verstanden!“, gab der Bär zurück. „Ihr Blut ist blau, weil sie tot ist.“
Tränen schossen mir in die Augen. Und als ob er meinen Gefühlsausbruch schon vorausgeahnt hätte, hielt er mir eins von seinen karierten Stofftaschentüchern hin, das ich stumm entgegennahm.
Wie betäubt folgte ich den anderen über die Schmierseiferutsche nach unten in die Wassergrotte und knallte schließlich mit einem Nasenstüber – Petzis Lieblingswort - gegen Pingo. Mein schwarz-weißer Freund rieb sich den Schnabel und legte eine Flosse an sein Ohr. „Hörst du?“
„Ja“, entgegnete ich, „was ist das?“
„Das ist die Prinzessin. Sie singt beim Baden!“
„Darf ich sie sehen?“
„Auf gar keinen Fall!“, gluckste Petzi, der gerade auftauchte. „Sie muss dich suchen, aber dafür ist es noch zu früh.“
Ich verstand und nickte.
„Kannst du eigentlich noch ein paar Fische für mich angeln, während du uns zurückfährst?“, wollte Pingo wie beiläufig von mir wissen.

Ich weiß nicht genau, was mich ins Grübeln brachte, während mir eine in die Jahre gekommene Dagmar Berghoff Unwichtigkeiten von einer Charity-Gala aus meinem Breitbild-TV verkündete. Vielleicht war da doch etwas in ihrem Beitrag, den sie diesmal mit weniger lakonischer und kühler, vielmehr beinahe ein bisschen empathisch klingender Stimme moderierte, das mich aufhorchen ließ. Dann zwinkerte sie mir deutlich mit dem rechten Auge zu und hustete gekünstelt, um sich beinahe simultan mit den mir noch aus der Tagesschau bekannten Worten „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen und Herren“ zu entschuldigen. Wenn das kein Zeichen war!
Ich zog meine Jacke über, ging, nein, ich joggte zuerst, dann sprintete ich die vier Blocks stadteinwärts bis zu Elenas Wohnung. Von unten sah ich Licht brennen. Ich pfiff, trat gegen die Haustür und klingelte gleichzeitig Sturm, bis die Nachbarn mich in den Hausflur ließen.
Elenas Schlüssel, den ich ihr noch nicht zurückgegeben hatte, öffnete mir die Wohnungstür. Im Korridor stolperte ich über den Inhalt ihres Kleiderschranks, verlor einen Schuh, rappelte mich wieder hoch und schlug mich zur Küche durch, von woher ich Geräusche zu vernehmen meinte. Als Erstes entdeckte ich Pingo, der sich vor dem geöffneten Gefrierschrank eingerichtet hatte und angetaute Fischstäbchen lutschte.
„Er ist da! Schnell, Petzi, greif’ in meinen Beutel!“, kreischte Pelle und schlug wie wild mit den Flügeln, während Seebär sich mehrere Stangen von Elenas unverzollten Zigaretten in den Eingriff seiner Latzhose schob. „Hat ja etwas gedauert, bis es bei dir geklackert hat“, brummte er in meine Richtung.
„Was machen wir mit ihm?“, zischte Pelle.
„Wir zersägen ihn zu Gulasch!“, rief Petzi, während er halb in Pelles Schnabel verschwunden war, „Aber ich kann die Säge mit der Drachenzahn-Schneide hier drinnen nicht finden!“
„Spreng’ ihn doch einfach in die Luft mit den Böllern von deinem Vetter aus China!“
„Ein wunderbare Idee, Pingo! Mach’ mal deinen Schnabel weiter auf, Pelle, hier drin ist es so dunkel!“
Elena saß auf dem Sofa und zitterte. Sie umklammerte die Replik des litauischen Staatswappens, die sonst eigentlich die Wand hinter ihr zierte, in die Papagei, vermutlich angelockt vom hohen Kalkanteil des Sozialen-Wohnungsbau-Putzes, bereits eine beträchtliche Anzahl faustgroßer Löcher gehackt hatte.
„Elena ...“, begann ich und stürzte auf sie zu, kam aber nicht dazu, meinen Satz zu vollenden, weil Schildkröte zuschnappte und meinen schuh-freien linken Vorderfuß zwischen ihren Kieferleisten zu bearbeiten begann. Ich strauchelte und fiel in Richtung Sofa. Das Schwert des weißen Wappenreiters bohrte sich in meinen Unterarm, als ich auf Elena zu liegen kam. Ich spürte, wie Petzi mir die Schwarzpulverstangen in meine Gesäßtaschen schob und konnte schon den beißenden Geruch der brennenden Lunten riechen. Für einen Sekundenbruchteil blickte ich in Elenas aufgerissene Augen, dann küsste ich sie, und die Welt um mich löste sich auf. Petzi und seine Freunde verpufften zu Nichts.

„Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff, seit wir uns getrennt haben“, weinte Elena. „Ich weiß nicht, wie es so weit hat kommen können.“ Sie deutete auf das Chaos, für das – wie ich annahm – zweifelsohne die Bande verantwortlich sein musste.
„Ich habe diese Stimmen in meinem Kopf gehabt, die mir gesagt haben, ich muss mit dir Schluss machen ... und jetzt sind sie weg! Das ergibt keinen Sinn!“
„Oh, glaub’ mir, Elena, das ergibt absolut einen Sinn.“ Ich streichelte ihre Wange. Dann sagte ich: „Die Liebe ist eine Königin, aber ich bin ihr ein schlechter Untertan gewesen, da ist ihr Blut blau geworden, und sie ist gestorben. Ich habe eingesehen, dass ich viel falsch gemacht habe und dass ich mich ändern muss, dass wir beide uns ändern müssen, damit die Prinzessin Königin werden kann.“
Elena schluchzte auf und drückte mich. „Du bist so süß, Marty!“
„Hmm, sagen wir mal, ich arbeite dran“, flüsterte ich, während ich über ihre Schulter zum Fenster blickte. Dort schwebte die pausbäckige Prinzessin, winkte mir durch die schlecht geputzte Scheibe zu und verdrückte den letzten der Pfannkuchenstreifen, die ich ausgelegt hatte, um sie auf meine Fährte zu locken.
Denn wer traut schon dem Wort eines Bären, der eine blaue Pudelmütze trägt und ständig seine Hosenträger schnacken lässt?


Version 2, in tiefer Verneigung vor C.&V. Hansen, inspiriert von Petzi sucht die Zauberhöhle

Letzte Aktualisierung: 19.11.2011 - 17.32 Uhr
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