Diese Seite jetzt drucken!

Blaues Blut | November 2011

Die kleine blaue Made im Speck
von Glädja Skriva

Sie war heiß ersehnt!

Ein Wunschkind. Sozusagen

Eine Made im Speck sollte sie werden, dick, fett, rund und gefräßig; allerdings erst, nachdem sie sich durch den gesamten Adel gebumst hatte, sodass dabei auch etwas für die weitläufige und nächste Maden-Verwandtschaft abfiel.

Aber, frisch geboren, hatte das kleine Madenmädchen zwar zartrosa hingehauchte Bäckchen, aber es sperrte kaum sein Mäulchen auf, wenn die Mutter ihm einen besonders grünlich, appetitlich, frischlichen Happen brachte. Nein, so bescheiden und zurückhaltend wie ihr Appetit war, war auch ihr Umgang. So ließ sie all ihren Schwestern immer den gebührenden Vortritt: der schielenden Emilie, weil diese doch nicht so gut sehen konnte; der zerrupften Eusebia, weil diese mit ihrem Biorhythmus einfach nicht klarkam und wieder einmal verschlafen hatte. Ja, und Vortritt ließ sie natürlich erst recht dem Goldkrönchen von und zu Camilla Cammiliosa, weil diese viel, viel schöner und sowieso edler und überhaupt viel sanftmütiger war als sie selbst.

Die Mutter seufzte enttäuscht. Niemals würde aus ihr etwas werden! So hob sie das kleine Madenmädchen mit spitzen Fingern empor, beäugte es wie einen elendig stinkenden Mistkäfer und – ließ es, igitt, angeekelt über den Nestrand in die Tiefe plumpsen. Fort damit!

Die Kleine trudelte zur Erde. Erschrocken und – knallrot. Sie schämte sich zutiefst, dass sie so entsetzlich entsetzlich war, aber zum Glück verschlang sie ein riesiger, aufgehäufter Blätterberg, sodass niemand sie jemals mehr sehen musste. Mit letzter Kraft schlüpfte sie in eine kleine Nussschale, die sich verborgen hatte, und schloss die Deckeltür fest über sich. Ganz fest. Rums. Versteckt vor jedem für immer.

Doch der kleine freche Holzwurm im Nebenast hatte alles beobachtet. Er war vom ersten Tag an ein glühender Verehrer des kleinen Madenmädchens gewesen. Nachts träumte er von ihr, dass es ihm dabei die Schuhe auszog. Er träumte von ihrem Duft, der, hmmmh, nach feinstem Leinöl schmeckte und von ihrer Hautmaserung, so zart und weiß und weich, wie feinster Alabaster. Tagsüber war er nicht mehr zu halten; wenn er bohrte, bohrte er sich, Holzloch um Holzloch, um Kopf und Kragen in kleine und große Herzen, in dicke und dünne, wohlgeformte und windschief schräge hinein, die inzwischen den gesamten Baum bedeckten.

Er war es auch, der schließlich an die Nussschale des kleinen Madenmädchens klopfte. Ein wenig zaghaft noch - der Schraubenzieher piekte in der rechten Hosentasche - nuschelte er: „Ha-l-lo?“ Keine Antwort kam. Nichts anderes war zu hören als das leise Rascheln der Blätter im Herbstwind. „Hal-lo, Kleene“, rief er erneut, jetzt etwas beherzter, „darf ick dir besuchen kommen?“ Das kleine Madenmädchen saß mit angehaltenem Atem und angsterfüllten Augen in eine Ecke gedrückt in ihrem Zimmerchen. Wer sollte s i e besuchen wollen? Da rief es auch schon wieder: „Ick, ick kenne dir. - So ein bisschen eben.“ Sie schloss die Augen. Ganz fest. Ihr Herz bummerte. Sie wollte nichts davon sehen und hören müssen. Sie wollte ganz still sein, dann würde er weggehen und nie mehr kommen. Doch da klang es bereits wieder: „Schade, dass du nich öffnen tust. Ick hätte mir wie dolle gefreut. Ick komm morgen wieder. Wa?“

Und so kam der Holzwurm. Tag für Tag für Tag. Inzwischen war der laue Herbstwind einem eisigen Wintersturm gewichen. Der Holzwurm konnte nur langsam mit seinen dicken Fellstiefeln, seiner Ohrenklappenmütze und seinem runden, langen Korkenmantel durch den tiefen Schnee vorwärtskriechen. Aber weder der zugefrorene See noch die Eisschicht, die sich wie eine feine Spiegelfläche über den Waldboden gelegt hatte, konnte ihn davon abhalten. Und heute schon gar nicht. Denn morgen war ein ganz besonderer Tag: Das Madenmädchen hatte Geburtstag! Der Atem des dick eingepackten Holzwurmes zeigte kleine Eiskristallwölkchen, als er dröhnte: „Ick würde dir so jerne morgen ne Freude machen. Haste ne Idee, Kleene?“

In dem Moment, als er „Kleene“ sagte, zog sich das Herz des Madenmädchens zusammen und sie musste ein bisschen weinen, weil sie dabei an die schielende Emilie und an die zerrupfte Eusebia erinnert wurde, an Goldkrönchen und ja, und sogar an die Mutter. Hatte sie ihr nicht immer den grünlich, frischlich, appetitlichen Happen ins Nest gelegt?

War es nicht alleine ihre Schuld, dass sie nun in dieser dunklen, feuchtkalten Nussschale ganz für sich alleine wohnen musste? Hatte sie nicht Schande über die Familie gebracht? Ihre kleinen Zähnchen klapperten aufeinander. Aber wenn sie sich endlich, wie die weise, gute Mutter es wollte, sich als Made im Speck durch den einflussreichen Adel hin- und ein bisschen zurückbumseln würde, gerade eben so, dass auch etwas für die weitläufige und nähere Verwandtschaft abfiel, ja, dann könnte, dann könnte doch alles wieder gut werden. Und so wisperte sie leise mit einem Strahl von Hoffnung durch die Nussschalenwand nach draußen: „Liebster, ich wünsche, ich wünsche mir, dass du mir zeigst, dass du von blauem Geblüt bist, damit ich dich lieben kann.“

Das Herz des kleinen Holzwurmes machte Sprünge. Er hatte zwar keine Ahnung von Thun und konnte auch nicht als solcher mit den Taxis vorfahren, aber irgendetwas würde ihm morgen schon einfallen.

Bereits in den ersten Morgenstunden des neuen Tages klopfte der kleine Holzwurm an die Nussschale. Die Sonne hatte sich wie zu diesem besonderen Fest mit ihm verabredet und tauchte die weiße Winterlandschaft in glutrotes Licht. „Meene Kleene. Meen kleener, knuddliger Wonneproppen!“, trompetete er aufgeregt. Das kleine Madenmädchen wagte nicht zu atmen und hatte nachts kaum geschlafen. Heute, heute würde sich alles entscheiden. Es antwortete ihm leise fragend: „Wonneproppen? Du, du ... liebst m i c h?“ Und mit festerer Stimme fuhr sie fort: „Das heißt auch, du bist von blauem Geblüt, so, wie ich es mir gewünscht habe? Kannst du mir das beweisen?“ Die Antwort des kleinen Holzwurmes kam vorwitzig zurück: „Dann spick doch mal durch die Nussschale, meen kleener Brummer. Dann wirste schon sehn.“

Sie blinzelte zaghaft hinaus. Rot war es da. Glutrot. „Du hast mich angelogen“, wisperte sie tränenerstickt zurück. Der Holzwurm gab nicht so schnell auf. „Nu quatsch doch nich“, sagte er. „Dat is doch die Sonne. Du musst weiter runter kieken. So weit oben bin ich och nich. Noch nich mal mit dat blaue Blut, ne?“ Ihre Augen tasteten sich durch den kleinen Nussschalenschlitz hindurch bis sie – Blau, tatsächlich Blau, entdeckte. Alles würde gut werden.

Ein Blau, das im Wind wogte wie ein Roggenfeld unter einem weitgespannten Regenbogen. Und schaute sie weiter nach links, links unten, entdeckte sie ein Blau, so tiefblau wie in den tiefsten Tiefen der Südseeozeanen mit den schillerndsten, geheimnisvollsten Südseefischen, die sie jemals in einem ihrer Lieblings-Lieblingsmeeresschätzenbücher gesehen hatte.

Sie rief entzückt aus: „Ich sehe wunderschönes, schillerndes Blau wie ich es schöner niemals sah, aber sag mir, Liebster, bist du auch von blauem Geblüt, sodass ich dich lieben kann?“

Jetzt konnte der Holzwurm nicht mehr an sich halten. Seine Worte purzelten nur so aus seinem Mund heraus: „Na hör mal, Kleene, wenn ick dir schon dat Blaue vom Himmel hole, wenn ick jeden Morgen mit diesem Korkenjamper durch diese arschkalte Pampa pirsche ... nur für dich ... wenn mir dat nich adelt.“

Das Madenmädchen zögerte dennoch. Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Sie ging zaghaft zur Tür, drehte dann jedoch im letzten Moment wieder ab, dachte nach, setzte sich an den Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt, überlegte wieder, zog die kleine Stirn in Runzeln, trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Dabei fiel erneut ihr Blick durch den kleinen Nussschalenspalt nach draußen zu diesen wundervollen Blautönen, die sie so verzauberten, dass sie - ihre Hand auf den Türknauf legte, um ein wenig, quasi weniger als ein wenig, die Tür zu öffnen.

Sie blinzelte. Das Tageslicht war ungewohnt. Sonst war sie stets in der Nacht unterwegs gewesen, damit die Dunkelheit sie bedeckte, sodass sie niemand sehen musste. Aber jetzt - etwas mehr noch öffnete sie die Tür. Sie quietschte in den Angeln. Zögerlich stellte sie innen den Fuß dagegen, falls der Holzwurm versuchen würde sie aufzudrücken.

Aber ihre Angst war umsonst. In adlig gebührender Entfernung stand er da, ihr „Graf“:

Ein Holzwurm. Mit blau eingepinseltem Irokesenschnitt und einer überdimensionalen Sonnenbrille, in der sich das Blau des Himmels spiegelte. Er griente sie an. „Na, Kleene ...“

Ihre kleine Faust griff nach dem Türknauf und ...

© P.S./Glädja Skriva/November 2011/2.Version

Letzte Aktualisierung: 27.11.2011 - 15.46 Uhr
Dieser Text enthält 8768 Zeichen.


www.schreib-lust.de