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Blaues Blut | November 2011

Das Malheur in der besten Gesellschaft
von Andrea Will

Manchmal, wenn ich morgens um halb fünf aufstehen muss, denke ich, ich hätte besser einen anderen Beruf wählen sollen. Aber bis zu meiner Rente sind es fast noch dreißig Jahre. Aber was solls, mir macht mein Beruf Spaß und ich kann mir keinen schöneren vorstellen.
Ich, das ist Andrea. 41 Jahre alt. Gelernte Altenpflegerin. Mit großem Examen. Darauf lege ich Wert. Über meine Arbeit und die erlebten Geschichten könnte ich schon einige Bücher füllen.
Seit ein paar Wochen bin ich im Landkreis Kassel unterwegs. Kleiner Smart Diesel dessen wichtigstes Teil mein Navigationsgerät ist. Denn ich habe keinen Orientierungssinn.
Es ist ca. 8.00 Uhr morgens, als ich zu Frau Schmidt zu einem Noteinsatz nach Hause gerufen werde. Die übergewichtige Dame liegt jammernd im Bett.
"Guten Morgen Frau Schmidt. Wo tut es Ihnen denn weh?"
"Meine Windel ist voll. Ich habe Durchfall. Dazu kommt noch ein starker Husten und ich glaube, ich habe Fieber."
Viele verschiedene Gedankengänge kreisen nun in meinem Kopf. Was tun? Eine Chefin sagte mal zu mir, ich solle erst Blutdruck, Puls und Temperatur messen um ein wenig Zeit zu gewinnen zum Überlegen. Aber würde es mir gefallen, in einer schmutzigen Windel zu liegen, wäre ich an Stelle von Frau Schmidt? Womöglich ist auch das Bett noch beschmutzt.
Ich bin eine Frau der Tat. Volles Programm. Arbeitsplatz vorbereiten. Alle notwendigen Sachen herbei. Mülleimer. Toilettenpapier. Waschschüssel. Einmal Waschlappen. Feuchte Tücher. Neues Bettzeug. Inkontinenzmaterial ( Windel klingt zu abwertend). Neues Nachthemd. Das Bett auf Arbeitshöhe und flach. Ich ziehe meine Handschuhe an und schon geht es los.
Nach weiteren 20 Minuten ist alles erledigt und nichts erinnert mehr an das Malheur, das ich hier vorgefunden hatte.
Puls und Blutdruck normal. Temperatur hoch.
"Frau Schmidt, ich werden Ihren Hausarzt um einen Hausbesuch bitten. Am besten bleiben Sie heute mal im Bett. Sie haben fast 40 Grad Temperatur".
Wieder kreisen Gedanken in meinem Kopf. Durchfall und Fieber. Das bedeutet leichte Kost. Viel Flüssigkeit.
In der Patientenmappe steht die Telefonnummer ihrer Tochter. Ich rufe sie an.
"Guten Morgen, Frau Bauer. Ihrer Mutter geht es nicht so gut. Was gab es denn gestern bei Ihnen zu essen?"
"Gestern haben wir adelig gegessen: Von vorgestern. Reste von einem Auflauf und zum Nachtisch etwas Kirschen mit Sahne."
"Na Frau Bauer. Nun haben wir das Malheur. Zumindest hat sie gestern wie ein Kaiser gegessen. Heute isst sie wie ein Bettelmann."

Letzte Aktualisierung: 01.11.2011 - 19.35 Uhr
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