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Blaues Blut | November 2011

Halloween
von Reiner Pörschke

Unser Anführer heißt Ramon. Er rollt das „R“ genauso wie seine Augen und gibt uns pausenlos Anweisungen, so dass er schon ganz heiser ist. Er spricht Spanisch, was wir leider nicht verstehen, aber Michelle, seine Braut, übersetzt uns alles. Wir sind Piraten und folgen ihm bis in den Tod.

Ramon sieht cool aus, wie Johnny Depp aus dem „Fluch der Karibik“. Michelle, mehr der Typ Angelina Jolie, hat unsere Gesichter furchterregend schwarz gefärbt. Jeder von uns trägt ein Piratentuch auf dem Kopf und natürlich einen Säbel in der Hand.
Heute Abend werden wir ein Schiff kapern. Dafür haben wir am Nachmittag schon geübt, als wir nach Totenköpfen gesucht haben. Mit Gebrüll jagten wir durch die Ferienanlage und erschreckten die Touristen. Ich habe mindestens sieben Totenköpfe gefunden und war ganz stolz, auch wenn mein Freund Max etwas abschätzig meinte: „Ist doch eh’ nur aus Pappe.“
Max ist ein Jahr älter als ich. Manchmal ist er etwas nervig, aber ich bin sicher, heute Nacht, das wird das ganz große Abenteuer. Wenn es dunkel ist, wollen wir uns alle am Strand treffen.

Ramon hat eine echte Fackel dabei und wie immer folgen wir ihm blindlings, erklimmen einen Sandhügel und verstecken uns hinter einem Strauch, denn Ramon hat mit seinem Fernrohr ein feindliches Schiff auf dem Meer ausgemacht.
„Ich sehe kein Schiff“, mault Max. Ich sag’s ja, er nervt manchmal.

Ich schließe mich lieber Mike an. Der spricht zwar nur Englisch, wenn auch nicht das, was wir in der Schule lernen, aber ich will mir den Spaß nicht durch Max verderben lassen. Plötzlich sehen wir von weitem ein helles Scheinwerferlicht.
„Piraten in Deckung! Da kommt ein Schiff mit Gold!“ übersetzt Michelle Ramons Worte, die wie eine Maschinengewehrsalve auf uns einprasseln.

Max ist wirklich stur. Jetzt steht er schon wieder neben mir.
„Komm, lass uns abhauen! Das ist doch alles Kindergartenkram. Wir suchen echte Abenteuer, oder bist du zu feige?“
Feige, das will ich nicht auf mir sitzen lassen, und so stapfe ich Max hinterher.
„Leise, damit die Feinde uns nicht hören!“, ermahnt er mich.
Ich bin etwas verwirrt, weiß nicht genau, welche Feinde er meint, Ramon und Michelle, oder wen? Ich sehe sonst keinen.

Je weiter wir uns von Ramons Fackel entfernen, um so dunkler wird es. Nur vom Hafen her blinken ein paar matte Lichter. „Wir gehen jetzt immer am Meer entlang“, erklärt mir Max.
Die Wellen rollen laut grollend auf den Strand. Meine Piratenstiefel werden nass.
Das zu erwähnen, fände Max aber bestimmt nicht cool.
„Willst du wirklich selbst ein Schiff kapern?“, frage ich zögernd.
„Klar, im Hafen gehen wir an Bord. Wir suchen uns ein Schiff aus, das nach Amerika fährt. New York ist viel besser als Mallorca. Findest du nicht auch?“
Ich weiß nicht genau, was ich finde. Der Abendwind pfeift durch mein dünnes Kostüm und mir wird das Ganze allmählich unheimlich.

Plötzlich falle ich in den Sand. In der Dunkelheit kann ich nur schwer erkennen, worüber ich gestolpert bin. Es fühlt sich ziemlich glitschig an.? Ich schreie laut auf: „Eine Riesenschlange!“
„Es gibt keine Riesenschlangen am Mittelmeer“, beruhigt mich Max.
„Und gestrandete Wale?“
„Auch nicht!“
Neugierig betasten wir das merkwürdige Objekt.
Max fühlt eine starre Hand, ich spüre einen Fuß mit Schuh.
„Ein Geist?“
Mir klappern die Zähne, ob vor Kälte oder Angst, weiß ich nicht mehr.
Da ertönt Musik.
„Was ist das?“, kreische ich vollkommen entnervt.
„Mein Handy.“
„Du hast ein Handy?“
„Ja, du Schlaumeier!“
„Und warum gehst du nicht ran?“
„Wir wollen doch nach Amerika, schon vergessen?“
„Können wir das mit Amerika nicht noch einmal verschieben?“, frage ich zaghaft.
Max schaut mich verächtlich an, dann betätigt er den Knopf.
„Wir haben eine Leiche gefunden“, meldet er seinem Gesprächspartner.

Nach einer Ewigkeit sehen wir endlich Ramon und Michelle kommen, dieses Mal mit Taschenlampen. Fremde Männer haben eine Trage mitgebracht. Sie kichern, als sie die Leiche sehen. Der Sturm hat Käpt’n Hook vom Schiffsrumpf auf dem Spielplatz weggerissen und auf den Strand geweht. Die Puppe wird ordnungsgemäß abtransportiert und wir stapfen gemeinsam mit den Anderen zurück zum Hotel.

Meine Eltern warten schon auf mich. Offensichtlich habe ich ihnen ihre Halloweenparty vermiest. Ich heule laut los, aber meine Mutter nimmt mich in die Arme und schimpft gar nicht mit mir.
Eine Frau in schwarzem Kleid, mit weiß geschminktem Gesicht, auf dem eine Blutspur vom kirschroten Mund herunter läuft, fährt den Hotelbesitzer an:
„Das wird Folgen haben! Ich werde mich mit meinem Anwalt in Verbindung setzen. Da vertraut man Ihnen Kinder an, und Sie sind nicht in der Lage, darauf aufzupassen. Völlig unprofessionell, Ihr Roman!“
„Ramon“, verbessert der Direktor.
„ Egal, Sie Klugscheißer. Komm, Maximilian! Wir reisen morgen ab!“
„Bitte beruhigen Sie sich doch, Senora von Helpenstein! Ich bin sicher, dass wir die Sache in Ruhe regeln können. Sehen Sie, los ninos sind doch gesunde in Hotel zurück.“

Ich kann jetzt verstehen, dass Max nach Amerika will. Wenn ich es recht bedenke, ist er auch viel mutiger als ich. Das liegt bestimmt an seinem blauen Blut.

3. Version / 9.11.2011

Letzte Aktualisierung: 09.11.2011 - 21.35 Uhr
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