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Blaues Blut | November 2011

Wüstenprinz
von Katharina Conrad

Ich atme Hitze und schlucke feinen, roten Sand.
Fast wünsche ich mich zurück ins klimatisierte Flugzeug. Mit dem Ärmel vor der Nase folge ich den anderen Passagieren ins Ankunftsgebäude.
Von den bewaffneten Soldaten fühle ich mich mehr bedroht als bewacht und bin froh, als ich die Passkontrolle hinter mir habe und im Hotelbus sitze. Seine Ausstattung besteht nur aus Hupe und Gaspedal; laute arabische Musik schlängelt sich im Rhythmus der Bodenwellen an den zerkratzten Fensterscheiben entlang.
Der Fahrer stellt meinen Koffer vor dem Hotel in den Straßenstaub und mustert mich abschätzig. Für seinen Geschmack bin ich definitiv zu alleine.
An der Rezeption schiebe ich Voucher und Reisepass über den Tresen.
„Marlene Sternthal.“
Vor dem Zimmer entlasse ich den Hotelboy mit ein paar Münzen und trage mein Gepäck die letzten Meter selbst. Schließe die Tür hinter mir, lasse mich aufs Bett fallen und streiche mir mit beiden Händen die Haare aus der Stirn.
„Was zum Teufel tue ich hier?“, frage ich laut, aber der Deckenventilator gibt keine Antwort.
Ich stehe auf und öffne die Minibar.
Mit einer kleinen blauen Wasserflasche trete ich auf den Balkon. Das Meer glitzert in der Sonne, und vom Strand flattert fröhliches Lachen zu mir herauf.
Ich sinke auf einen Plastikstuhl und ziehe den Ausdruck einer E-Mail aus der Hosentasche, die ich vor zwei Wochen bekommen habe.
„Marlene! Erinnerst du dich an mich? Nouri“
Ich glaube es immer noch nicht.
Jetzt sitze ich hier in Tunesien und werde mich mit Nouri treffen, mit dem ich vor mehr als zehn Jahren einen Abend lang zusammen war. Danach habe ich ihn nie wiedergesehen.
Was für ein leichtsinniger, kindischer Unfug!
Jo ist schuld.
Überhaupt ist Jo an allem schuld! Daran, dass ich mich so dumm fühle wie seit meiner Schulzeit nicht mehr, und daran, dass ich an allem zweifle, worauf ich mein Leben aufbauen wollte.
Der erfolgreiche Herr Anwalt, mein Verlobter. Der mein Medizinstudium immer so gönnerhaft als „meinen kleinen Samariterkomplex“ bezeichnet hat. Jetzt verlangt er, ich solle meine brotlose Kunst als Kinderärztin aufgeben und mir etwas Lukrativeres suchen – in einem Pharmakonzern vielleicht. Oder ganz sein Hausfrauchen spielen.
Und genau in dem Moment voller Zorn auf Jo und auf mich selbst bekomme ich diese E-Mail ...
Natürlich erinnere ich mich – vergisst man je die erste Liebe?
Er schrieb von sich. Dass er in Paris, Cambridge und Heidelberg studiert hat und dann zurück nach Tunesien gegangen ist. Wie es mir ging, wollte er wissen, und zaghaft gestand ich ihm, wie unglücklich ich war. Er riet mir, Abstand zu gewinnen und eine Auszeit zu nehmen.
Kurzentschlossen, kopflos buchte ich eine Woche Tunesien – und da bin ich nun, eingeschüchtert von der eigenen Courage und von diesem Land, das so anders ist als alles, was ich kenne.
Wegen eines Mannes, über den ich genaugenommen gar nichts weiß!
Nouri ahnte, dass diese andere Welt mir Angst einflößen würde. Wir werden uns direkt vor dem Hotel treffen, damit ich mich sicher fühle.
Mir bleiben zwei Stunden, die ich nutze, um im Meer zu schwimmen, zu duschen und mir etwas Frisches anzuziehen.
Als ich mit Libellen im Bauch aus dem Foyer trete, bin ich froh über die Touristen auf der Promenade. Mustere die Einheimischen, die in kleinen Grüppchen vor den Teestuben stehen. Ist einer von ihnen Nouri? Er hat kein Foto geschickt. Ich auch nicht. Plötzlich merke ich, dass die Tunesier mich alle anstarren. Nein, nicht mich. Etwas oder jemanden hinter mir ... Ich folge den Blicken, und sehe – Nouri!
Er steht so dicht hinter mir wie damals.
Dieselben schwarzen Augen mit denselben dichten, langen Wimpern. Trotz der Hitze kriege ich Gänsehaut.
Mehr als die Augen gibt seine Kleidung auch nicht preis. Ich zwinge mich, aus den schwarzen Seen aufzutauchen.
Blauer Stoff verdeckt Haar, Nase und Mund; der Rest seiner Kleidung ist schwarz. Er löst den unteren Teil des blauen Tuches und gibt den Blick auf seine feinen, stolzen Züge frei. Er lächelt.
„Marlène.“
Beim Klang seiner französischen Aussprache rutscht mein Herz in meine Magengrube. Als wäre es erst gestern gewesen!
„Nouri!“
Er hält mir die Hände entgegen, und ich lege meine hinein. Seine sind angenehm trocken und kühl.
„Gehen wir ein Stück?“, fragt er, und ich nicke, die Blicke von Einheimischen und Touristen in meinem Rücken wie Nadelstiche.
„Sie starren mich an, nicht dich“, liest er meine Gedanken. „Unsereins verirrt sich selten hierher.“
„Unsereins?“
Ich betrachte ihn verstohlen von der Seite. Den Teenager von damals, Außenseiter wie ich selbst, gibt es nicht mehr. Neben mir schreitet ein Mann mit geschmeidigen Bewegungen und atemberaubender Präsenz.
Wir gehen ohne Eile, mit Worten tastend finden wir uns wieder.
Die Unterhaltung plätschert in flachen Gewässern dahin, lässt aber keine Zweifel an den Tiefen und versunkenen Schätzen, die noch zu entdecken wären, bekämen wir die Chance dazu.
Schließlich haben wir das Hotel-Viertel doch verlassen, und ich beginne, über die Schulter zurückzuschauen.
Nouri bleibt an einem geparkten Jeep stehen.
„Das ist meiner“, sagt er und lehnt sich dagegen.
„Okay“, antworte ich.
„Ich lebe in einer Oase, weit im Hinterland. Früher waren wir Nomaden, aber mein Stamm ist seit vielen Jahre sesshaft.“
„Du meinst, du bist ein ...?“
„... ein Kind der Wüste. Mein Vater war ein Fürst - alter Landadel, wenn du so willst. Wir besitzen große Dattelplantagen. Arm sind wir nicht, wir könnten uns die nobelsten Häuser in der Stadt leisten – und würden dort vertrocknen wie Minzblätter in der Sonne. Ohne den Himmel, die Weite und den Sand ...“
Ich weiß nicht, was ich sagen oder auch nur denken soll.
Nouri spricht leise und doch füllt seine Stimme meinen ganzen Körper aus.
„Meine Eltern schickten mich nach Europa, damit ich lerne und die Welt außerhalb unserer Oasen kennenlerne. Jetzt weiß ich, wo ich hingehöre.“
Ich schlucke, denn diesmal habe ich seine Gedanken gelesen.
„Du möchtest, dass ich mitkomme?“
Er senkt den Blick nicht, sondern blickt mühelos auf den Grund meiner Seele.
„Nur, wenn du es auch möchtest.“ Dann lacht er leise, es klingt wie ein glucksender Bach. „Ich bringe dich wieder zurück, versprochen.“
„Heute noch?“
Wieder lacht er.
„Das wird schwierig. Wir müssen eine halbe Wüste durchqueren. Aber ich bringe dich zurück.“

Der Jeep rast durch den Sand.
Ich denke an meinen Pass, mein Touristenvisum und meine Zahnbürste im Hotelzimmer. Und fühle mich mit einem Mal frei und losgelöst wie ein Regentropfen im Ozean.

Ich verliere jedes Gefühl für Zeit und Distanz, aber die Sonne steht tief, als wir unser Ziel erreichen.
Nouri öffnet mir die Wagentür.
Nach der endlosen Wüste scheint mir die Oase wie ein Wunder, ein Paradies inmitten der Einöde. Weiß gekalkte Häuser und befestigte Zelte im Schatten hoher Palmen, üppige Hibiskusbüsche.
Dazwischen buntes Leben, Menschen, Ziegen, Hühner. Und – Kamele.
Die Menschen lächeln mich an und neigen die Köpfe vor Nouri. Eine junge Frau, schön wie ein Sonnenaufgang und das stolze Gesicht unverschleiert, schwebt anmutig auf uns zu und umarmt ihn.
Sie nimmt meine Hände in ihre – kühl wie Nouris.
Dann lächelt sie, sagt etwas, das ich nicht verstehe und umarmt auch mich.
Bevor ich ihn danach fragen kann, hat sie mich in ein Zelt gezogen und mir einen Platz zugewiesen.
Sie bringt mir und sich selbst einen Becher mit süßem Pfefferminztee, und auch für Nouri, der sich hintergründig grinsend neben mich setzt.
Danach zeigt Nouri mir die Siedlung.
„Meine Schwester mag dich“, erwähnt er beiläufig.
„Deine Schwester! Sie ist wunderschön ...“
„Nur eine von vielen Eigenschaften, die sie mit dir teilt. Ihr würdet euch gut verstehen.“
„Wenn wir uns nur verstehen würden!“
Wir lachen.
Dann wird Nouri ernst.
„Wir haben ein Krankenhaus. Nicht weit von hier. Es hat gute Ärzte, aber keinen für die Kinder.“
Seine Worte hallen durch meinen Kopf.
Wir sind bei den Kamelen angekommen, und ich beobachte ihn, wie er nachdenklich einem der Tiere über die Nüstern streicht.
Er kommt mir so vertraut vor.
„Komm, ich zeige dir mein Zuhause!“
Er führt mich durch den Palmenhain. „Es gehörte meinen Eltern. Meine Schwester liebt ihr Zelt und möchte nirgendwo anders leben, darum habe ich es ganz für mich alleine.“
Es ist eines dieser schmucklosen, weißen Häuser; nicht groß, trotzdem geräumig und offen. Er führt mich hindurch und über eine Treppe auf das flache Dach, von dem aus man die ganze Oase überblicken kann.
Auf dem Boden liegen bunte Teppiche.
„Ich schlafe meistens hier draußen“, sagt er. „Hast du Hunger?“
Ich helfe ihm, ein paar Flaschen Wasser, Minztee, Fladenbrot, Oliven und frische Datteln hinaufzutragen.
Wir essen und schauen uns an, reden kaum und wissen genau, was kommen wird. Die Dämmerung über der Wüste ist kurz, und die Sterne spannen ein funkelndes Dach über uns.
Er beugt sich zu mir, und ich freue mich über das Kitzeln seiner Wimpern auf meiner Haut. Ich zögere keine Sekunde, greife in sein Haar und ziehe ihn an mich. Auch ich bin nicht mehr der schüchterne Teenager von damals.
Kein zaghaftes Erkunden, nicht dieses Mal. Nur geschmeidige Kraft, ebenbürtige Lust und der Geschmack von Minze …

„Wie viele Frauen hast du denn schon?“
Leises Lachen.
„Meinst du hast oder hattest?“
Die Gegenfrage irritiert mich mehr, als jede Antwort es vermocht hätte.
„Wenn du wissen willst, ob ich verheiratet bin“, er zeichnet mit dem Finger eine Linie von meinem Kinn bis zum Bauchnabel, „Das bin ich nicht. Und wenn ich es tun werde, dann nur ein einziges Mal. Irgendwann ...“
„Und – müssen Frauen für euch nicht unberührt sein?“
Wieder leises, perlendes Lachen.
„Du stellst Fragen! Wer genau ist wir, und wo endet unberührt?“
Ich werde rot.
„Aber“, beginnt Nouri und fährt fort, Linien auf meinen Körper zu zeichnen, „wenn du darauf bestehst: Als wir uns zum ersten Mal trafen, warst du es. Ich denke, das können wir gelten lassen ...“

Ich nehme sehnsüchtig einen letzten Atemzug der heißen, staubigen Wüstenluft, bevor ich in das klimatisierte Flugzeug steige. Fast wünsche ich mir, ich könnte sofort wieder aussteigen …

©KC2011-Vers2

Letzte Aktualisierung: 11.11.2011 - 14.13 Uhr
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