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Blaues Blut | November 2011

Entwischt
von Andrea Heinen

Die Wecker kannten keine Gnade.
Sabine hatte gleich zwei gestellt, einen auf sechs Uhr, den anderen zehn Minuten später. Vorsorglich.
Zwei Stunden Schlaf würden definitiv zu wenig sein, das war ihr bewusst, als sie endlich in die Federn sank.
Sicher, sie hätte auch einen Tag Urlaub nehmen können, wie so viele ihrer Kollegen am Veilchendienstag. Aber sie hatte zu lange gezögert, stattdessen amüsiert zur Kenntnis genommen, wer alles „Hier, ich!“ geschrien hatte, als vor Wochen die freien Tage festgelegt wurden. Nicht gerade passionierte Karnevalsjecken, die da als Erste zum Zuge kamen.

Sabine gehörte gewiss nicht zu den „Raderdollen“, doch irgendwie war sie da in den rheinischen Frohsinn hineingeraten, Kneipenkarneval mit Fünferreihen vor der Theke, sie mittendrin, so eben noch mit ein paar Schminkstiften zur Leopardin mutiert – Das dazu passende Kostüm war eines der allerletzten gewesen, die es am frühen Samstagmorgen überhaupt noch zu erstehen gegeben hatte.

Sei’s drum, sie hatte etliche Flirts mit mehr oder weniger angetrunkenen Piraten, allzu freien Herren und anderen Pappnasen genossen, auch das eine oder andere Mal die Krallen ausgefahren, vielleicht auch ein bisschen zu viel getrunken, war aber erst nach Hause gegangen, als die „geile Muschi“-, „leckere Pussy“- und „süßes Kätzchen“-Avancen in plumpe Handgreiflichkeiten auszuarten drohten .

„Ich hasse Karneval“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, das ihr unmissverständlich vor Augen führte, dass die grauen Ränder unter der verschmierten Schminke nicht so einfach mit ein bisschen Watte und Nivea-Milch verschwinden würden.
„Mindestens zehn Stunden Schönheitsschlaf“, verordnete der Spiegel.

Das „geile Kätzchen“ hatte doch tatsächlich die Zeit aus dem Blick verloren. Sabine verfluchte die Wecker bereits beim Stellen. Und ihre Haare sowieso. Dieser Gestank nach kaltem Rauch, und dann hatte irgendein Idiot, der im Gedränge die Kontrolle über seine Feinmotorik verloren hatte, ein halbes Glas Bier auf ihrem Kostüm und ein paar Spritzer in den Haaren … nein, egal, alles am Morgen. Nicht mehr duschen, Haare waschen, dann wäre sie gleich hellwach. Besser alles ignorieren, die Nase ins Kissen wuseln, vorher noch die Wecker um eine halbe Stunde vorgestellt. Ausgiebig duschen, Haare zweimal waschen, vielleicht sogar ein Vollbad nehmen, ach was, baden würde sie abends, wenn sie wieder ganz nüchtern war, jetzt nur noch schlafen, einfach nur schlafen.

Warum hatte sie keinen Urlaub genommen, wie all die anderen, die mit dem rheinischen Frohsinn überhaupt nichts am Hut hatten, sondern einfach zwei freie Tage ganz entspannt mit ihren Familien verbringen wollten?
„Irgendein Idiot muss ja arbeiten“, murmelte Sabine noch in ihr Kissen, als bereits der erste Wecker sein nervtötendes Signal gab.

* * *

Alice Feodora Freifrau zu Demand hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht.

Wenn ihr Bruder noch leben würde – Graf Artur, ihr großer Bruder.
König Artur – für sie – immer noch.
Der hätte es sicherlich nicht zugelassen, dass man sie in dieses Heim steckte.
Schuld hatte seine Frau, Arturs Witwe, diese Bürgerliche, diese alte Hexe, die ihre Schwägerin - sie - um jeden Preis loswerden wollte.
Dabei machte gerade sie der alten Hexe keinerlei Umstände.
Sie konnte doch gar nichts dafür, dass sich der Kleine von ihrer Hand losgerissen hatte und in ein Auto gelaufen war. Er hatte es überlebt. Einfacher Schädelbruch und ein zertrümmerter Oberschenkel.
Sie musste zu ihm, ins Krankenhaus, ihrem Neffen sagen, dass es ihr leid tat, sie es nicht gewollt hatte, lediglich einen kleinen Moment unaufmerksam gewesen war.

„Gnädige Frau, wo wollen Sie denn hin?“
„Ich muss ins Sankt Franziskus.“
„Aber, Frau Demand, haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Es ist vier Uhr in der Nacht! Sie gehören ins Bett – wie alle hier.“
„Sie sind doch auch nicht im Bett!“
„Aber, verehrteste Freifrau von Demand, ich bin die Nachtschwester.“
„Das ist es ja, lassen Sie mich zu meinem Neffen, er ist schwer verletzt, er braucht mich, ich muss seine Hand halten, bis es ihm besser geht.“
„Frau Demand! Ihr Neffe ist nicht im Krankenhaus, das mit dem Unfall ist 20 Jahre her! Ihr Neffe ist ein erwachsener, kerngesunder Mann!!
Und jetzt, Abmarsch ins Bett!!!“

Was nahm sich diese impertinente Person nur heraus?
Diese Gewöhnliche.
Sie war lediglich die Nachtschwester und wollte nicht erkennen, vielleicht überstieg es auch ihren Horizont, nein, es interessierte sie nicht einmal, dass ihr Neffe in Not war.

„Lassen Sie mich!“, herrschte Alice Feodora Freifrau von Demand die Nachtschwester an, die sie für ihre Begriffe recht unsanft eingehakt hatte und zurück in ihr Zimmer führte.
„Sie sind ein sadistisches Biest!!“
„Ich weiß“, entgegnete die Nachtschwester in stoischer Ruhe, „aber Sie müssen jetzt schlafen, und vorher etwas trinken. Hier, Sie wissen doch, dass Sie viel Wasser trinken müssen, damit Sie nicht dehydrieren. Ich hole Ihnen noch was zur Beruhigung.“
„Ich brauche Ihr Gift nicht.“
Energisch wehrte die 87-Jährige die zaghaften Versuche der um mindestens 70 Jahre jüngeren Nachtschwester ab, ihr beim Auskleiden zu helfen. „Lassen Sie Ihre Finger weg, das kann ich alleine!“
Doch dann fand die Alte, dass es eine bessere Strategie wäre, sich pro forma kooperativ zu zeigen. „Entschuldigen Sie meinen Tonfall, aber ich bin ja nicht behindert. Lassen Sie mich jetzt bitte alleine.“
Die junge Pflegerin hatte im Rahmen ihrer erst vor kurzem beendeten Ausbildung einiges an Deeskalationsstrategien gelernt, und in diesem Fall war es sicherlich die klügste Entscheidung, sich zurückzuziehen. „Dann gehe ich jetzt, liebe Frau Demand, schlafen Sie wohl.“

* * *
„Scheiße!!“, fluchte Sabine, als sie panisch aus ihrem Halbschlaf hochschreckte und nicht minder entsetzt feststellte, dass der zweite Wecker bereits 7.45 Uhr zeigte. Verflucht!
Um neun Uhr musste sie an ihrem Arbeitsplatz sein, eine Stunde Fahrt – das war nicht zu schaffen. Anrufen? Krank melden? – Nein, kam nicht in Frage, sie war doch kerngesund, hatte aber trotzdem einen dicken Kopf. Die dämlichste aller Ausreden müsste sie vortragen: „Sorry, ich hab‘ verschlafen.“
Das anzügliche Gelächter ihrer vermutlich ausgeschlafenen Kollegen konnte sie sich in allen Facetten ausmalen. Blöde Macho-Sprüche – egal: Sollten sie doch lästern, ihr würden schon passende Antworten einfallen.
Blöde Sprüche hatte sie am Abend, in der Nacht, zur Genüge gehört, die waren ohnehin nicht mehr zu toppen. „Männer sind Idioten!“, dachte Sabine, während sie unter der Dusche ihren Schritt besonders intensiv und auch ein bisschen ausgiebiger als sonst einschäumte. Dieses kleine private Glück konnte ihr niemand nehmen.
Bester Laune verließ sie kurz nach Neun das Haus, jetzt war es auch egal, ob sie eine, zwei oder vielleicht drei Stunden zu spät kam. Was so ein Schlafmangel doch an Endorphinen freizusetzen imstande ist!
Die Sonne strahlte, ein schöner Tag - nur reichlich kalt. Die Scheiben der am Gehweg parkenden Autos waren noch rundum von Reif überzogen, also musste sie kratzen. Kein Problem: Sabine war einer seltsamen Euphorie verfallen, in der sie am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.
Da kam die schmächtig wirkende Alte, die sich ihr mit kleinen, trippelnden Schritten näherte, gerade recht.
„Guten Morgen“, zwitscherte Sabine, die zunächst nur flüchtig den etwas irritiert wirkenden Blick der lediglich mit einem dünnen Kleid und einem leichten Mantel bekleideten älteren Dame registrierte.
„Guten Morgen“, erwiderte die Sabines Gruß, um dann, zwei Schritte weiter, innezuhalten. „Ach, sagen Sie, bin ich hier richtig bei Sankt Franziskus?“
„Ja, das ist der richtige Weg“, trällerte Sabine, der allerdings schlagartig bewusst wurde, was die Alte gerade gefragt hatte.
„Wo bitte möchten Sie hin?“
„Zu Sankt Franziskus, dem Krankenhaus, bin ich da richtig?“
„Ja schon“, entgegnete Sabine, „die Richtung stimmt, aber da wollen Sie doch nicht allen Ernstes zu Fuß hin - das sind mindestens noch drei Kilometer!“
Erst jetzt bemerkte Sabine, dass die alte Dame vollkommen entkräftet war. Sie mit ängstlichen Augen anschaute. Die Lippen dieses kleinen Bündels an Elend waren so spröde, dass sich Sabine sogar einen Moment lang dafür schämte, an diesem verschlafenen Morgen Gloss statt des gewöhnlichen Stifts aufgetragen zu haben. „Wo kommen Sie denn her?“ – Eine intelligentere Frage fiel ihr nicht ein, dafür war die Antwort umso erschütternder.
„Aus Sankt Raffael“, grinste die Alte, „und, wissen Sie was, ich bin denen entwischt!“
Sabine versuchte gelassen, nüchtern zu bleiben. Alles erst einmal sortieren, denn so ganz wach war sie schließlich noch nicht. „Haben Sie einen Termin im Krankenhaus?“
„Ja“, antwortete die alte Frau mit dünner Stimme, „einen Termin, aber ich weiß es nicht mehr … ich kenne mich doch gar nicht aus hier.“
„Oh, scheiße, jetzt garantiert drei Stunden zu spät“, schoss es Sabine durch den Kopf … Nein, sie konnte die offenkundig demente Frau nicht einfach so stehen lassen. Aus Sankt Raffael, dem Altenheim, „entwischt“, da war sie schon mindestens ein bis anderthalb Kilometer gelaufen und drohte zu kollabieren.
Sabine zögerte keinen Moment. „Warten Sie, ich hole Hilfe.“ Mit der einen Hand stützte sie die schwer atmende alte Frau, mit der anderen Hand tippte sie die 112 in ihr Handy. „Keine Sorge, es wird sicher eine kleine Weile dauern, ich rufe einen Arzt, bleiben Sie ganz ruhig, versuchen Sie ruhiger zu atmen, Sie müssen keine Angst haben.“
Sabine kamen die acht Minuten bis zum Eintreffen des Rettungswagens wie eine Ewigkeit vor, das zunehmend hektischer werdende Hecheln der alten Dame in ihren Armen versetzte sie in Panik.
* * *
„Danke, dass Sie gehandelt haben, das adelt Sie“, sagte der Sanitäter, der der Greisin in den Rettungswagen geholfen hatte, „viele schauen einfach nur weg.“
„A... Ach was“, stammelte Sabine, während die Notärztin der Alten eine Infusion legte. Und die – blinzelte ihre Retterin mit kleinen, warmen, wachen Augen an.
So gerne war Sabine noch nie zu spät zur Arbeit gekommen wie an diesem Veilchendienstag.

Letzte Aktualisierung: 13.11.2011 - 08.55 Uhr
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