'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Pulp Fiction | Dezember 2011
Zahnarztbesuch des Grauens
von Andreas Schröter

Ich war bereits 25 Jahre alt, als ich zum ersten Mal einen Zahnarzt aufsuchte. Es hatte sich zuvor dafür keine Notwendigkeit ergeben. Der Schulzahnarzt, der einmal im halben Jahr in unsere Schule kam, hatte meine Zähne immer als "tipi-topi" bezeichnet. Also bitte. Aber um ganz ehrlich zu sein: Ich hatte auch Angst vorm Zahnarzt. Aber dann musste es doch sein. Ich spürte seit Tagen einen zwar nicht sehr starken, aber doch latent vorhandenen - und deshalb nervenden - Schmerz unter einem Zahn.

Der Arzt war alt. Sicher hatte er längst das Rentenalter erreicht und konnte sich anscheinend nicht von seiner Praxis trennen. Freundlich sagte er: "Ahh, ein junger Mann. Es ist selten, dass sich ein junger Mann zu mir verirrt. Meistens kommen alte Knacker", - er lachte, weil er es wohl für witzig hielt, mir gegenüber einen solchen Ausdruck zu benutzen -, "die mich seit 30 Jahren als ihren Haus-Zahnarzt betrachten. Na sollen sie. Ich lebe schließlich von ihrem Gebiss." Und so redete er in einem fort, bis er begann, mit seinen Instrumenten an meinem Zahn herumzustochern. Dann hielt er endlich seinen Mund. Ich hielt das zunächst für Konzentration, doch als sich sein Schweigen über mehrere Minuten fortsetzte, fand ich es doch seltsam und unangenehm. Und dann sagte er in einem seltsam veränderten, ernsten Tonfall - und das noch dazu ganz leise: "Ich muss Sie bitten, meine Praxis zu verlassen. Ich kann Ihnen nicht helfen."

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was sollte das? Gab es nicht etwas wie eine moralische Pflicht für ihn, mich von meinem Schmerzen zu befreien? Doch alles Nachfragen, Bitten und Betteln half nicht. Der Arzt wollte mich nicht weiter behandeln. Verrückter alter Kauz! Und so musste ich mich wohl oder übel auf die Suche nach einer neuen Praxis machen. Bis zum nächsten Tag wollte ich mit diesen Schmerzen auf keinen Fall warten. Tatsächlich gab's nur etwa 500 Meter entfernt eine zweite Zahnarztpraxis, die noch geöffnet hatte. Der Arzt ließ mich noch vor. Er war wesentlich jünger als der andere und weniger freundlich. Aber seine Stimmung änderte sich Gott sei Dank auch nicht, als er mich eingehend untersuchte. "Es ist merkwürdig", sagte er nach einer Weile, "Sie haben Fremdkörper unter beiden Eckzähnen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich habe keine Ahnung, wie so etwas dahin kommen kann. Und dann auch noch auf beiden Seiten. Ich stehe gelinde gesagt vor einem Rätsel." Ich hatte keine Antwort. Ich hatte weder einen Unfall gehabt, bei dem sich vielleicht ein Splitter oder etwas Ähnliches in meinen Mundraum gebohrt haben konnte, noch war mir eine Operation in Erinnerung, bei der die Fremdkörper vielleicht eingepflanzt worden waren.

"Sehr merkwürdig", wiederholte der Arzt mehr für sich selbst. "Nun, ich denke, diese Fremdkörper sind für Ihre Schmerzen verantwortlich. Ich werde versuchen, sie zu entfernen. Vielleicht geht das auch ohne Betäubung ..." Doch als er die Zange ansetzte, schoss ein derart intensiver Schmerz durch meinen Kiefer, dass sich für einen Moment alles um mich drehte. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich nahm den Arzt und die Praxis nur noch wie durch eine Nebelwand wahr. Danach muss ich für einige Augenblicke sogar das Bewusstsein verloren haben.

Als ich wieder erwachte, erwartete mich ein Schreckensszenario: Der Arzt lag reglos auf dem Fußboden. Er hatte offenbar eine Verletzung am Hals. Wobei hatte er sich die zugezogen? Schlimmer war jedoch der Zustand der Praxis. Sie war mit Blutspritzern übersät. In einer Ecke hatte sich eine ganze Lache gebildet. Ich war entsetzt und tastete instinktiv meine Mundpartie ab. Doch ich konnte im ersten Moment nichts Ungewöhnliches feststellen. Auch sonst war ich unverletzt. Das konnte also nicht mein Blut sein. Ich erhob mich aus dem Behandlungsstuhl und untersuchte den Arzt. Ganz langsam sickerte in mein Bewusstsein, dass dieser Mann nicht ohnmächtig war. Er war tot. Panik breitete sich in mir aus. Was war hier geschehen? Der Arzt hatte tatsächlich eine Wunde am Hals, aber sie schien mir nicht so schlimm zu sein, dass sie für den Tod des Mannes verantwortlich sein konnte. Ich musste die Polizei rufen. Oder konnte es sein, dass ich in Verdacht geriet, für den Tod des Arztes verantwortlich zu sein?

Der tote Arzt hatte noch die Zange in der Hand, mit der er versuchen wollte, diese Fremdkörper aus meinem Gebiss zu ziehen. Und in der Tat umschloss die Zange noch ein hauchdünnes Plättchen - aus Silber, wie es aussah. Hatte das in meinem Mund gesteckt? Und wenn ja, wie und wann war es dort hineingekommen? Wenige Zentimeter neben der Leiche fand ich ein zweites genauso aussehendes Gebilde. Ich tastete wieder meinen Mund ab und nahm einen Spiegel zu Hilfe, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen - außer vielleicht, dass meine Eckzähne etwas länger wirkten als gewöhnlich. Aber das konnte an dem besonderen Licht in dieser Praxis liegen. Und doch gab es eine ganz wesentliche Veränderung: Meine Zahnschmerzen waren weg.

Wie sollte es weitergehen? Ich konnte doch den Arzt hier nicht so einfach in seinem Blut liegen lassen. Andererseits wusste wohl niemand, dass ich hier war. Wer also sollte mich mit dieser Sache in Verbindung bringen? Den Arzt machte es auch nicht wieder lebendig, wenn ich jetzt die Polizei anrief. Ich untersuchte den Computer, der ebenfalls in der Praxis stand: Nein, der Arzt hatte mich noch nicht als neuen Patienten in seine Datei aufgenommen, wollte es sicher erst nach der Untersuchung tun. Ich dachte wieder an den alten Arzt und die Veränderung seiner Stimmung, als er mich untersuchte. Hatten die Geschehnisse etwas mit mir zu tun? Vielleicht sogar mit diesen Silberplättchen, die zuvor in meinem Mund steckten? Ich beschloss, den alten Arzt noch einmal aufzusuchen. Danach konnte ich immer noch entscheiden, wie ich mich weiter verhalten würde.

Der alte Mann saß hinter seinem Schreibtisch, als ich in seiner Praxis eintraf. Er blätterte in einem alt und verstaubt aussehenden Folianten und schien mich nicht zu bemerken. "Hab ich's doch gewusst", murmelte er vor sich hin, "ich habe das immer für Aberglauben gehalten ... Dass es das wirklich gibt ... Ich werde die Polizei informieren müssen ... Aber wer wird mir glauben ...?" Ich räusperte mich, der Arzt schreckte hoch und stieß den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, um. Zitternd wich er in eine Ecke des Raumes zurück. "Bitte, bitte, tun Sie mir nichts", stammelte er, "wir können es als unser Geheimnis betrachten."

Ich beachtete ihn nicht. Mit einem Satz war ich an seinem Schreibtisch und blickte auf die aufgeschlagene Buchseite.

Vampirblocker

Werden die ersten Eckzähne eines Kindes von vampirischer Abstammung an der Wurzel mit Silberplättchen eingefasst, kann sich der Vampirkeim nicht ausbreiten. Wenn die Milchzähne ausfallen, muss die Prozedur wiederholt werden.

Das Buch hatte einige Zeichnungen, die wohl darstellen sollten, wie diese so genannten "Vampirblocker" fachgerecht angebracht wurden. Ich erinnerte mich dunkel, dass mein Zahnwechsel für meine Pflegeeltern eine ziemlich große Sache gewesen war. Konnte es sein, dass sie während dieser Zeit ein paar Mal eine alte Zigeunerin aufgesucht hatten, die damals in einer einsamen Hütte lebte? Ich hatte nie verstanden, was meine Pflegeeltern an dieser alten Hexe gefunden hatten. Ich las weiter:

Die Plättchen dürfen später keinesfalls entfernt werden, auch dann nicht, wenn sie Schmerzen verursachen sollten. Werden sie aber dennoch entfernt, gewinnt der Vampirkeim unmittelbar die Oberhand und das Individuum ist für immer verloren.

Ich klappte das Buch zu, worauf der Arzt in seiner Ecke heftig zusammenzuckte. Doch ich war nicht interessiert an diesem Mann. Obwohl ich soeben etwas von "für immer verloren" gelesen hatte und deswegen womöglich nun am Boden zerstört sein sollte, erfasste mich eine eigentümliche Ruhe. Ich ging zum Fenster, öffnete es und sah hinunter auf die Straße zu dem pulsierende Leben der Stadt im abendlichen Lichterglanz. Plötzlich drängte sich mir ein Gedanke auf, der mir sonst nie gekommen wäre. In dieser Stadt gab es etwas im Überfluss: Blut! Im Spiegelbild des Fensters sah ich mich begierig lächeln und meine Eckzähne im Mondlicht gespenstisch blitzen.

Letzte Aktualisierung: 26.12.2011 - 19.10 Uhr
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