Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Pulp Fiction | Dezember 2011
Nur eine Herz-Schmerz-Geschichte
von Ingeborg Restat

Dolores, weit über neunzig Jahre alt, konnte ihr Haus nicht mehr verlassen. Es war ein altes Haus, von dem sie sich nicht trennen wollte. Brauchte sie auch täglich viele pflegende Hände um sich, ihre Augen waren noch immer gut und sie las gern.
Die Bücher dazu besorgte ihr ihre Nichte Simone, die diese Leidenschaft mit ihr teilte. Dazu stöberte Simone gerne auf dem Dachboden herum. Vieles, was sonst auf dem Flohmarkt angeboten wurde, ließ sich hier zu ihrer Freude finden.
So sah sie dort eines Tages eine alte eingestaubte Kiste unter Spinnweben stehen. Neugierig zog sie die hervor. Unzählige Hefte mit Bildern aus alten Zeiten auf den Deckblättern lagen darin. „Das große Herz einer Königin“, war eins davon betitelt, „Die Glückseligkeit einer armen Magd“ ein anderes. Und dann blätterte sie in einem Heft herum, das den Titel trug: „Schicksalsstunde im Abendrot“. Sie ging damit unter ein Dachfenster, hockte sich an die Erde und begann zu lesen:


Das Herz des jungen Grafen Eribert von Haldenau schlug höher, sooft er Isabel, dem Töchterlein des armen Tagelöhners aus seinem Dorf begegnete. Egal ob er hoch zu Ross an ihr vorbeiritt oder in der hochherrschaftlichen Kutsche der Grafen vom Schloss her an ihr vorüberfuhr, es verlangte ihn mit jedem Mal mehr, dieses liebreizende Geschöpf in die Arme zu nehmen. Er träumte davon, einmal die aufgesteckten Zopfschnecken über ihren Ohren lösen zu können, um das in der Sonne wie Gold schimmernde Haar durch seine Finger gleiten zu lassen.
Er sah, wie sie unter seinen Blicken errötete, wie sie züchtig die Augen niederschlug, es vermied, seinem Blick zu begegnen und eilig vorüberlief. Bis sie ihm eines Tages nicht mehr davonlaufen konnte, er versperrte ihr den Weg. Erschrocken sah sie zu ihm auf. Tief schaute sie in seine blauen Augen, zu tief versank er in ihrem Blick. Hell auf entflammten ihre Gefühle der Liebe zueinander. Und überwältigt davon hielten sie sich an den Händen fest, als wollten sie sich nie wieder loslassen.
Bald darauf waren sie in Glückseligkeit vereint. Doch es musste eine heimliche Liebschaft bleiben zwischen dem reichen und hochgestellen jungen Herrn vom Schloss und dem einfachen Kind eines armen Tagelöhners. Bittere Tränen flossen und alle Liebesschwüre konnten die Ängste nicht besiegen, als der Vater für den jungen Grafen eine Braut auserkor.

Simone blätterte weiter:

Es war ein milder Abend. Der Wind und die letzten Sonnenstrahlen des Tages spielten mit den Blättern der Bäume. Isabel lief eilig durch den Wald nach Hause. Pilze hatte sie gesammelt, einen ganzen Korb voll. Doch auch mit ihrem Liebsten hatte sie sich heimlich getroffen. Ratlos und verzweifelt hatten sie sich aneinandergeklammert, sich gegenseitig ihre Liebe geschworen und doch gewusst, dass sie sich nie erfüllen konnte. Ihre Lippen brannten noch von seinen leidenschaftlichen Küssen.
Die Wangen gerötet, die Augen voller Tränen, so hastete sie durch den Wald. Die letzten Sonnenstrahlen verloschen, Dämmerung setzte ein. Ein Reh kam aus seinem Versteck und streifte vorsichtig durchs Unterholz. Ein Kauz ließ seinen unheimlichen Ruf erschallen. Isabel zuckte zusammen, lief schneller. Es war spät, viel zu spät, um noch in dem Wald zu sein. Doch die Liebenden hatten sich nicht trennen können. Jeder Moment, den sie zusammen sein konnten, war für sie kostbar.
Noch hatte sie den Waldesrand nicht erreicht, da schrak sie zusammen. Dort, diese dunkle Gestalt, die durch den finsterer werdenden Wald schlich, wer war das? Was machte er hier? Ängstlich duckte sie sich hinter einen Busch. Der Vater? Es war ihr Vater. Er hatte eine Flinte über der Schulter, wo wollte er damit hin?

Ein paar Seiten später:

Ein Schuss hallte durch den Wald.
Ein Reh sprang fliehend davon. Hasen schlugen aufgescheucht ihre Haken und ein Bussard jagte mit kräftigem Flügelschlag durch die Wipfel hinauf.
„Vater! Vater! Was tust du?“ Isabel fiel der Korb mit den Pilzen zur Erde, sie achtete nicht darauf. Sie lief entsetzt zu ihm.
Noch hatte sie ihn nicht erreicht, da knackte es im Unterholz. Eine Hand legte sich auf die Schulter des Vaters. Graf Haldenau trat hervor. „Hab ich dich endlich, Wilderer!“
„Nein, nein! Bitte, Gnade!“, schrie Isabel.
Doch der Graf blieb hart. In den Kerker sollte der Vater. Isabel fiel auf die Knie, jammerte, weinte, flehte.
Nichts schien das Herz des Grafen erweichen zu können.

Schnell blätterte Simone weiter:

Eribert, angezogen durch den Knall des Schusses, hastete in tiefster Sorge um seine Liebste durch Buschwerk und Unterholz. Er wird sie finden. Stimmen – dort musste sie sein. Er sah sie vor seinem Vater knien, erkannte ihre Verzweiflung. Das Herz zog sich ihm zusammen. Nichts hielt ihn mehr. Er trat zu ihr, hob sie auf und hielt sie fest im Arm.
Zornesröte stieg dem Grafen ins Gesicht. „Was sehe ich? Du und diese Dirne eines Tagelöhners?“
„Ja, Vater, sie ist mir das Liebste auf der Welt.“ Jetzt bot er seinem Vater die Stirn und bekannte sich dazu.
Doch der Vater war mit einem Satz bei ihnen und riss sie auseinander. „Du wagst es? Du bist ein von Haldenau und sie ist ein Nichts. Damit geben wir uns nicht ab. Schick sie dahin, wohin sie gehört.“
„Nie werde ich von ihr lassen!“, trotzte Eribert.
„Eher jage ich dich vom Schloss, als dir dazu meinen Segen zu geben. Jetzt kein Wort mehr und folge mir!“
Noch einmal drückte Eribert Isabel an sich. „Sorge dich nicht, Liebste! Was auch geschieht, ich lasse nicht von dir“, flüsterte er ihr zu. Dann folgte er seinem Vater, der den Tagelöhner vor sich her trieb.
Isabel konnte es kaum mit ansehen. Verzweifelt weinend lief sie nach Hause.

Wie soll das ausgehen? Hastig blätterte Simone zu den letzten Seiten:

Nächte folgten, in denen Isabel herzerweichend weinte. Der Vater war im Kerker und von Eribert hörte sie nichts. Was sollte aus ihnen werden? Das Herz war ihr schwer. Zu groß war ihre Liebe. Nein, um ihretwillen sollte Eribert nicht vom Schloss gejagt werden. Dazu liebte sie ihn zu sehr. Aus Liebe wollte sie ihn verlassen und fortgehen, damit er sie vergessen konnte.
Auch Eribert wollte sich nicht erst vom Schloss jagen lassen. Aus Liebe zu Isabel war er bereit, alles aufzugeben, Reichtum und Ansehen, ein sorgloses Leben. Er packte seine Sachen, nahm sein Pferd und ritt vom Schloss. Nur einmal drehte er sich noch um und spürte, wie weh es tat, allem zu entsagen. Aber er tat es für Isabel, seine Isabel, die er aus ihrem Kummer erlösen und glücklich machen wollte.
Doch als er mit vor Freude klopfendem Herzen beim Haus des Tagelöhners ankam, war es leer, Isabel fort. Sollte er umsonst alles aufgegeben haben? Musste er an ihrer Liebe zweifeln?
Nein, niemals! Er ahnte, auch sie hatte ein Opfer ihm zuliebe bringen wollen und irrte jetzt allein in der Welt umher. Egal, wie lange er suchen musste, er würde sie finden!
Er fragte jeden im Ort nach Isabel. Aber nur einer hatte gesehen, wie sie in die Postkutsche eingestiegen war. Da gab er seinem Pferd die Sporen und jagte hinterher.
Er holte sie ein. Sein Herz wollte ihm zerspringen, als er seine Liebste unglücklich zusammengesunken darin fand.
Sie aber glaubte zu träumen, als sie ihn sah und flog ihm glückselig in die Arme.
„Nie lasse ich dich wieder los!“, flüsterte er zärtlich und hielt sie fest.

Als der Graf begriff, dass er seinen einzigen Sohn verloren hatte, ging er in sich und bereute, so hart gewesen zu sein. Er ließ ihn suchen und holte ihn zurück. Auch Isabel war ihm nun willkommen. Um ihretwillen wollte er seinen Sohn nicht verlieren.
Sogar Isabels Vater ließ er frei, nachdem der geschworen hatte, nie wieder eine Flinte in die Hand zu nehmen.
So lebten sie weiter glücklich miteinander, weil zwei Menschen zueinander gefunden hatten und sich nicht trennen ließen.

Mit einem Seufzer schlug Simone das Heft zu. Irritiert lächelte sie vor sich hin. Wie konnte sie diese Geschichte so gefangen nehmen? Und hier war eine Kiste voll mit solchen Romanen. Sie griff sich ein paar davon und ging hinunter zu Dolores.
„Schau mal, was ich gefunden habe“, sagte sie und legte ihrer Tante die Hefte in den Schoß.
„Ach, die gibt es noch?“, lachte Dolores auf.
„Du erinnerst dich daran?“
„Und ob! Als ich jung war, konnten wir nicht aufhören, diese Geschichten zu lesen.“
„Aber so etwas …“
„Du meinst so etwas Triviales, Kitschiges?“
„Ja. Es gibt Besseres zu lesen als dies.“
„Zweifellos! Doch was wurde wohl mehr gelesen, diese kleinen Herz-Schmerz-Geschichten, diese Märchen für Erwachsene, oder das so genannte gute Buch? Je einfacher der Mensch, umso lieber griff er nach Ersterem, weil es leicht zu verstehen war. Und die andern … vielleicht las dieser oder jener davon das auch, gab es aber nicht zu.“
„Egal wie simpel es sein mag, ein gutes Buch ist dem doch bei Weitem überlegen!“
Verschmitzt sah Dolores ihre Nichte an. „Du warst lange oben. Kann es sein, dass du in einem Heft gelesen hast?“
Verlegen musste Simone es zugeben.
„Siehst du. Es muss nicht unbedingt ein gutes Buch sein, um es gern zu lesen. Auch solche kleinen schnulzigen Träume von Weh und Ach haben ihre Berechtigung. Man könnte sogar fragen: Wann ist ein Buch erfolgreich, wenn es viel verkauft und gelesen wird oder wenn es von den Literaturfürsten anerkannt am Literaturhimmel strahlt? Wie viele mögen das sogar nur lesen, um mitreden zu können?“
„Wenn du die Hefte so magst, warum stehen sie dann nicht in deiner Bibliothek?“
„Da fragst du was! Etwas zu besitzen ist eine Sache, aber sich zu etwas zu bekennen, was allgemein gering geachtet wird, eine andere. So, nun bring die Hefte wieder dahin zurück, wo sie bis jetzt gelegen haben. Wegwerfen möchte ich sie auch heute noch nicht“, sagte Dolores und lehnte sich müde in ihrem Sessel zurück.
Simone aber ging hoch zum Dachboden, legte die Hefte zu den andern, schloss die Kiste und schob sie mit diesem seltsamen Schatz unter die Spinnweben zurück.

Letzte Aktualisierung: 20.12.2011 - 15.29 Uhr
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