Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Pulp Fiction | Dezember 2011
Im Namen der Ruhe
von Hartmuth Malorny

Lärm dringt von der Straße. Arbeiter richten eine Baustelle ein. Das Fenster steht auf Kipp. Lärm auch von oben - der Nachbar fährt dreimal täglich mit dem Staubsauger spazieren. Krach aus dem Radio, dem Fernseher. Ich gehe in den Keller und drehe die Hauptsicherung raus, das komplette Haus ist nun stromlos. Aber der Mensch kann auch ohne fremde Energie Krach machen: Türen klappern, Stimmen dringen durch den Flur, werden laut und lauter. Jemand schaltet den Strom wieder ein, das halbe Leben in diesem Haus hängt an wenigen Ampere, ein bisschen Treppenhauskonversation, erneut schlagen Türen.
Warum klingelt jetzt das Telefon? Weiß man nicht, dass ich sowieso nicht drangehe und den Austausch von Banalitäten für überflüssig halte?
Ratsch, das Kabel flutscht aus der Wand, fünf feine Drähte beenden den Ton der modernen Kommunikation, die einen ständig erreichbar macht, um sich gegenseitig zu sagen, was genauer betrachtet, keines Wortes bedarf. Morgens schellt die Müllabfuhr, mittags der Postbote - die einen holen den Dreck ab, die anderen stopfen Werbung in die Briefkästen, geräuschvoll, damit man hört, dass sie ihren Job erledigen.
Lärm auf allen Ebenen, etwas leise zu machen kommt keinem in den Sinn. Leise ist nur der Tod, leise ist es im Universum, das Leben spielt sich nicht unter 90 Dezibel ab. Das pulsierende Leben, sagt man auch dazu, und meint den Krach der Elektronik, die schrillen Stimmen und satten Geräusche. Stille dagegen verursacht Angst, die Angst, nicht wahrgenommen zu werden.
Ich öffne das Wohnzimmerfenster, ziehe den Vorhang zurück. Ich hole mein Gewehr aus dem Schrank, will es eigentlich nur entladen und ziele auf den Bauarbeiter da draußen, der ohne Ohrenschützer am Presslufthammer steht. Er kippt vornüber, sein Helm rutscht ihm vom Kopf. Glatter Halsdurchschuss. Aber der Hammer hämmert weiter und bohrt sich kreisend in den Asphalt. Kein geeignetes Mittel, um Ruhe herzustellen.
Haben Sie etwas gesehen? Nein. Fragen, ob man einen Schuss gehört hat. Nein. Die Fehlzündung eines Autos. Der Nachbar von nebenan mag Musik, er möchte, dass wir alle seine Musik mögen. Der Bauarbeiter hört nichts mehr. Wenn der alarmierte Krankenwagenfahrer wüsste, dass er zu einem Toten fährt, würde er die Sirenen abschalten. Aber es könnte ja um mehr gehen. Ich fülle Patronen ins Magazin und lege erneut an, diesmal mit Schallschutz.
Die Natur produziert elementare Töne: Das Rauschen des Wassers, den pfeifenden Wind, das Knistern eines Feuers, sie hat mit Kunst nichts am Hut, unter der Erde ist es ruhig. Oder sagen wir so: Die Natur gibt nur dem ein gutes Gehör, der es für sein Überleben braucht. Der Mensch ist eindeutig im Vorteil. Leider zu seinem Nachteil.

Jemand schreit, er hat den Gewehrlauf im Fenster entdeckt. Sein Schrei stirbt im Bruchteil einer Sekunde. So wie er selbst. Als hätte man den Ausschalter einer dudelnden Stereoanlage betätigt. Tiere erzeugen Laute, wenn sie in Gefahr sind – Warnhinweise, Menschen sind auch nur höher entwickelte Tiere, aber vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht sind wir sogar eine eigene phonetisch mutierte Rasse. Zumindest haben wir das Gewehr erfunden, und damit knallt man Kaninchen ab oder Bauarbeiter, die Lärm verursachen.
Ich hätte längst handeln müssen, hätte das Messer zwischen die Zähne klemmen müssen, den Nachbarn abpassen, als er unten die Sicherung reindrehte. Lautlose Jagd, zuerst der eine Nachbar, dann der andere, ich hätte sie leise gestapelt, die Leichen im Keller.
Stattdessen nehme ich einen der Polizisten aufs Korn, der Kopf im Fadenkreuz, ein trockenes Plopp, und der Körper sackt zusammen wie eine fallengelassene Marionette. Kein geordneter Rückzug, alles Chaos. Plopp, den langsamsten erwische ich von hinten im Genick. War es das endlich? Werden sie jetzt Ruhe geben?
Es schellt. Ich bin nicht zu Hause. Es schellt weiter. Ich nehme das Beil von der Kommode, öffne, sehe das erstaunte Gesicht meines Nachbarn, so wie er meine erhobene Hand sieht, den Gegenstand, der auf ihn runterrasselt. Es passiert beinahe ohne Geräusch, vielleicht ein bisschen trocken wie beim Genickbruch am Strick. Die Axt lasse ich im Kopf stecken. Mag sein, dass er nur nach einer Tüte Mehl fragen wollte.
Ich gehe wieder zum Fenster. Wenn ich sie alle kriegen will, brauche ich Atombomben. Es dauert, bis spezialisierte Kräfte eintreffen, bis dahin visiere ich die Schatten im Haus gegenüber an, die unvorsichtig Neugierigen. Ein Sanitäter steigt aus seinem Wagen, den silberfarbenen Koffer erhoben, wild gestikulierend und im Glauben, dass ihn das rote Kreuz schützt. Plopp. Pech gehabt.
Noch immer von Stille keine Spur. Aus Spaß lege ich auf einen weißen Pudel an, der kläffend zwischen den vielen Autos umherläuft. Ein weiteres Geräusch, das abrupt endet.
Während des Zweiten Weltkrieges, als die Alliierten in der Normandie landeten, hielten die deutschen Soldaten einfach drauf, sobald sich die Klappen der Boote öffneten. Anfangs erreichten die wenigsten den Strand, ihre Körper wurden von den MG-Salven regelrecht abgetrennt. Wutsch. Eine Fontäne aus Blei. Ich dagegen ziele sorgsam - zentimetergenaue Arbeit.
Dann ein plärrendes kleines Kind, das aus der schützenden Deckung rennt, konfus darüber, weil es nicht begreift was passiert, und es kann noch gar nicht richtig laufen, eher stolpernd, sich umschauend, aber es schreit. Ich treffe es besser als den flinken, weißen Pudel. Beim Pudel blieben alle Köpfe hübsch unten, beim Kind nicht, ich selektiere schnell und schieße mitten zwischen die Augen. War vermutlich die Mutter. Doppeltes Pech. Tote schlafen ruhig.

Endlich, das Sondereinsatzkommando. Gewiefte, vermummte Jungs. Beziehen an den strategisch wichtigen Punkten Stellung, aber sie wissen noch nicht, aus welchen Fenstern ich ballern kann, sie haben nur das eine im Visier. Ich gehe ins Schlafzimmer, mir bietet sich ein neuer Blickwinkel. Hinter dem Mannschaftswagen ragt ein Bein heraus. Junge, denke ich, du bist unvorsichtig. Ich schieße durchs geschlossene Fenster, treffe das Bein im Knie, der Polizist schreit auf, kippt für den Bruchteil einer Sekunde nach vorne, und bevor er wieder Schutz suchen kann, erwische ich ihn. Das war`s.
Auch für mich. Drei Kugeln schlagen gleichzeitig in meinen Körper ein und reißen mich rum.
Endlich, Ruhe für immer.

Letzte Aktualisierung: 27.12.2011 - 08.14 Uhr
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