'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Pulp Fiction | Dezember 2011
Seine Augen
von Amelie Sorglos

Der Schneefall ist dichter geworden. Als am Nachmittag ein heftiger Wind aufkam, hatte man vorsichtshalber den Skilift geschlossen. Jetzt drängeln sich die Urlauber schwatzend um die Bar im Hotel. Es gibt Kaffee und Kuchen neben all den Long Drinks und einen wunderbaren Pianisten am Flügel. Ich nippe an der riesigen Tasse mit dem schaumigen Milchcafe, beobachte die Touristen rund herum und den Barkeeper, wie er den Mixer schüttelt. Mir gegenüber an der Bar sitzt ein gut aussehender Mann, ein Bartträger. Ich schätze ihn auf über vierzig. Der Fremde mustert mich vorsichtig, ich ihn auch. Einmal begegnen sich unsere Blicke. Wie ein Blitz durchfährt es mich. Diese Augen kenne ich, doch sie gehörten einem anderen. Völlig verwirrt vermeide ich es, ihn noch einmal anzusehen, da steht er plötzlich neben mir.
„Verzeihung, darf ich Sie etwas fragen?“ sagt er lächelnd und schiebt sich neben den Barhocker, auf dem ich sitze.
„Ja natürlich, dürfen Sie das.“
„Kennen Sie vielleicht ein Sportgeschäft, in dem ich die Kanten meines Snowboards schleifen lassen kann?“
Warum fragt er das ausgerechnet mich?
„Es tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen“, versichere ich ihm.
Jetzt schaue ich ihm noch einmal in die Augen. Meine Hand zittert, als ich die schwere Tasse zum Mund führe. Diese hellen blauen Augen wecken Erinnerungen. Gefühle werden in mir wach, die vor vielen Jahren mein ganzes Leben verändert hatten. Plötzlich fällt es wie Schuppen von meinen Augen, es gibt keinen Zweifel, er ist es, Nikolaj Georges. Bevor er geht, stellt er sein Glas auf die Theke zurück und streift ganz leicht meinen Arm. Absicht oder Zufall? Hat auch er mich erkannt? Ich bin elektrisiert. Schnell bezahle ich und folge ihm hinaus in das Schneetreiben.
Draußen wirbeln dicke Schneeflocken durch die Luft. Fester hülle ich mich in meine warme Jacke, ziehe die kalte Luft durch die Nase und folge dem Mann durch einsame Gassen bis zum Waldrand. Dann ist er verschwunden. Weg! Die schneebedeckten Tannen haben ihn verschluckt. Zögernd laufe ich in den Wald hinein und lausche in die Stille. Mein Herz schlägt wild. Das Knacken eines Astes erschreckt mich. Ich fahre herum und schon saust die ganze Ladung Schnee von einem tief hängenden Ast auf mich herab. Und da steht der Mann mit den hellen blauen Augen. Der feine Pulverschnee kriecht an meinem Hals hinunter in meinen Pullover hinein. Ich schüttle mich wie ein Pudel.
„Warum verfolgen Sie mich?“ fragt er herzlich lachend.
Einen Moment halte ich inne. „Weil Sie mich an jemanden erinnern“.
„Und wer ist dieser Jemand?“

Ich war 16, als ich dem Pianisten Nikolaj Georges das erste Mal begegnete. Er war ein berühmter und wundervoll aussehender Mann, den die Damen der feinen Münchner Gesellschaft mit Hingabe und Leidenschaft verehrten. Den Beziehungen meines Vaters war es zu verdanken, dass er sich bereit erklärte, mir Klavierstunden zu geben, worum mich meine Schulfreundinnen glühend beneideten. Georges kam aus Moskau und war unverheiratet. Das Gerücht, er hätte ein Verhältnis mit der Ehefrau des Dirigenten, machte ihn noch viel interessanter, als er es schon war.
Ziemlich aufgeregt stieg ich damals die Marmortreppen zu seiner Wohnung hoch und als er mir die Tür öffnete, blieb mir ein wenig die Luft weg. Er trug eine helle Hose und ein seidenes Hemd, er wirkte sehr elegant auf mich. Er streckte mir die Hand entgegen und ich bemerkte wie groß seine Hand war, in der sich meine verlor. Ein völlig neues und fremdes Gefühl bemächtigte sich meiner.
Irgendwie brachte ich es fertig, die Noten auf dem großen Flügel, in seinem Musikzimmer zu platzieren und dem Instrument einige Töne zu entlocken. Georges stand mir gegenüber und beobachtete mich aufmerksam. Immer wenn ich meinen Kopf hob, begegnete ich seinen Augen, die mich von Anfang an faszinierten. Noch nie vorher hatte ich so helle blaue Augen gesehen.
Von diesem Tag an machte ich mich jeden Mittwochnachmittag auf den Weg zu seinem Haus. Ein leises Herzklopfen begleitete mich stets und ich fing an, die Aufregung zu genießen. Immer saß ich in dem großen, hellen Musikzimmer am Flügel und spielte, während seine Augen auf mir ruhten. Manchmal stellte er sich hinter mich und legte seine Hände auf meine Schultern. Seine Berührung entfachte jedes Mal einen riesigen Tumult in meinem Körper und ich hatte Angst, zu ersticken. Im geheimen wünschte ich mir, dass seine Hände weiter wandern würden, doch er ließ sie immer ruhig liegen. Einmal setzte er sich neben mich auf die Klavierbank. Er saß so eng, dass ich den Stoff seiner Hose an meinen nackten Beinen fühlen konnte. Er bewegte seinen Kopf nahe zu mir, so dass der aufregende Duft seines Rasierwassers meine Nase erreichte. Als er dann seine Hand auf meinen Schenkel legte, überzog sich mein Körper mit einem Film aus Nässe und mein Herz fing zu rasen an.

Nachts lag ich oft wach auf meinem Bett, durch das weit geöffnete Fenster huschte ein leichter Windhauch über mich hinweg und meine Gedanken weilten bei Georges. Ich flüsterte seinen Namen in die Dunkelheit. Meine Hände fühlten die weiche Nacktheit meines Körpers. Tastend erforschte ich meine kleinen festen Brüste, umkreiste die harten Knospen mit den Fingerspitzen, bewegte meine Hände weiter abwärts zu dem Geheimnis zwischen meinen Schenkeln. Schützend ruhten sie auf dem flaumigen Dreieck, aus dem das prickelnde Gefühl zu kommen schien, das durch meinen Körper schoss. Sehnsucht füllte den Raum. Mein Verlangen, gestreichelt und liebkost zu werden, verlieh meiner Phantasie Flügel, auf denen ich mich in Georges Arme träumte.
Ich zählte die Tage, die Stunden und die Minuten bis zum Tag der wiederkehrenden Musikstunden. Meine Leistungen in der Schule wurden schlechter. Ich hatte große Mühe, mich zu konzentrieren, ich zog mich immer mehr zurück. Nachmittags lag ich oft einsam hinter unserem Haus, auf der Wiese. Meine Träume segelten mit den Wolken am Himmel. Ein wunderbares Gefühl der Glückseligkeit durchflutete mich in der Vorstellung, ich läge in Georges Armen und er küsste mich. Wieder und wieder wisperte ich leise seinen Namen.
Noch bevor der Sommer zu Ende ging, war er aus meinem Leben verschwunden. Georges begab sich auf eine längere Konzertreise. Monatelang wartete ich auf seine Rückkehr. Es wurden Jahre.
In der Nacht weinte ich um meine verlorenen Träume, um meine ungestillte Sehnsucht.


„Und wer ist dieser Jemand?“ fragt er noch einmal.
„Er hatte Deine Augen.“ Ein dicker Kloß sitzt in meinem Hals und meine Stimme zittert.
Einen Augenblick lang zögert er, betrachtet mich genauer, dann ruft er voller Freude: „Amelie? Du bist Amelie, das kleine Mädchen aus München? Gott, was bist du groß geworden!“ Jetzt lachen wir beide. „Und schön!“ beeilt er sich zu sagen.
Er geht einen Schritt auf mich zu und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Er hat so große, weiche Hände. Ich fühle seinen Atem. Als sich seine Lippen meinen nähern, schließe ich die Augen. Er küsst mich sanft und zärtlich. Meine Knie werden weich. Gemeinsam fallen wir in den Schnee. Langsam zieht er den Reißverschluss meiner Jacke herunter, hebt den Wollpullover an und küsst meine nackte Haut. Meine Hände massieren seinen Kopf. Seine schwarze Mütze liegt längst irgendwo im Schnee.

Letzte Aktualisierung: 15.12.2011 - 15.36 Uhr
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