Honigfalter
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Pulp Fiction | Dezember 2011
Inspector Everett
von Sabiye Cam

Eine Weile stand Everett einfach nur da und dachte nach. Es war lange her, dass sie eine so grausam zugerichtete Leiche gefunden hatten. Morde ja, die passierten von Zeit zu Zeit auch hier. Aber so viele Messerstiche in den Körper einer so zierlichen jungen Frau?
Er zog sich aus, warf seine Sachen achtlos auf den Boden.
Die Wanne war längst voller, als er beabsichtigt hatte, und das Wasser heißer als gewollt. Wie machte Ann das nur immer, dass es genau die richtige Temperatur hatte?
Nackt, wie er war, ging er das Telefon holen, wählte, wartete.
„Hallo, hast du Zeit für einen Freund?“
„Oh George, wie nett dich zu hören! Es ist doch aber noch gar nicht Samstag.“
„Sally, seit wann nimmst du es so genau? Kann es nicht sein, dass mir heute einfach nur nach etwas Gesellschaft zumute ist?“
Sie schien amüsiert. „Da bin ich aber geschmeichelt, dass du gerade mich auserkoren hast. Wieso gehst du nicht in den Pub, so wie andere Jungs in deinem Alter?“
Ein Brummen. „Weil ich auch baden will. Und weil es dir nichts ausmacht, mit einem Nackten zu telefonieren.“
Da hatte er Recht. Sally arbeitete bei einer sogenannten Flirtline – was nicht mehr und nicht weniger als Telefonsex bedeutete – und hatte es täglich mit deutlich ungenierteren Gentlemen zu tun.
Er stieg in die Wanne, langsam, damit nichts ĂĽberlief. Das Wasser war immer noch heiĂź aber irgendwie brauchte er das jetzt.
„Nun Inspector, wir wollen uns aber doch nicht nur anschweigen, oder?“
Er erzählte ihr von der jungen Frau, dem Messeropfer. Berichtete von den Einschätzungen Dr. Malcoms, der die Leiche untersuchte. Mit Sally zu reden, das war über die Jahre zu einer Gewohnheit geworden. Bis Ann es herausgefunden und ihren Mann zur Rede gestellt hatte.
Zur Rede gestellt ... Nun, das klingt harmlos. In Wirklichkeit war Ann zu einer rasenden Furie geworden, wie George sie in ihren acht gemeinsamen Jahren noch nicht erlebt hatte. Die Ausdrücke, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte, hätte er aus ihrem Munde niemals erwartet. Natürlich hatte er beteuert, mit Sally nur über die Arbeit, seine Fälle, gesprochen zu haben und seiner Frau auch den Grund dafür erklärt: All die Grausamkeiten und menschlichen Abgründe wollte er von ihr, Ann, fernhalten. Und sehnte sich dennoch nach einem Menschen, mit dem er reden konnte.
Falls es auf der ganzen Welt Ehefrauen gab, die so eine Entschuldigung akzeptierten, so gehörte seine jedenfalls nicht dazu. Noch am gleichen Abend hatte sie ihre Sachen gepackt und war mit Lucy zu deren Großeltern nach Guildford gefahren.
Das war vor drei Monaten. Seitdem hatte er nur selten mit Sally gesprochen – aber ganz hatte er es noch nicht aufgeben können.
„Oh mein Gott, George! Wie schrecklich! Und wisst ihr gar nicht, wer es gewesen sein könnte?“
Er stellte den Lautsprecher an, legte das Telefon auf die Ablage neben der Wanne.
„Nein. Aber vermutlich ein Mann. Allein die Art des Mordes. Frauen greifen nicht sehr oft zum Messer. Laut Dr. Malcom sind die Stiche außerdem mit viel Kraft ausgeführt worden. Diese Heftigkeit, zusammen mit der großen Anzahl, legt nahe, dass es sich um ein persönliches Motiv handelt.“
„Eine Beziehungstat?“ Sally hielt den Atem an.
„Ja, das könnte schon sein. Eifersucht, Neid, Rache ...“
Müde fuhr er sich mit nassen Händen durchs Gesicht. Er war seit halb vier auf den Beinen.
„Oder es war ein heimlicher Verehrer. Ein Stalker. Jemand, dem sie einen Korb gegeben hat.“
„Sally, Sally, ist es meine Schuld, dass du schon wie ein Polizist denkst?“
Plötzlich lag viel mehr Timbre in ihrer Stimme, als sie in sein Ohr raunte: „Was kann ich dafür, dass du immer nur über die Arbeit mit mir reden willst, Darling?“
Er machte sich lang in der Badewanne, so gut es ging. Seine behaarten Knie guckten zwar weit heraus und das Wasser schwappte gefährlich nah am Rand. Zumindest wurde sein Oberkörper nun bis zum Kinn von lauwarmem Nass umspült. Er dachte an Ann und daran, wie enttäuscht sie gewesen war, dass er nicht mit ihr über die Arbeit gesprochen hatte.
„Weißt du, dass du mir nie gesagt hast, wie alt du bist? Und an deiner Stimme kann ich es beim besten Willen nicht festmachen. Wie macht ihr Frauen das nur, eure Stimmen so unterschiedlich klingen zu lassen?“
Statt einer Antwort vernahm er ein mädchenhaftes Kichern.
„Dieses arme Ding ... Nicht älter als fünfundzwanzig. Rote Locken, blaue Augen, Sommersprossen. Mir kam sie hübsch vor, obwohl ihr Gesicht verzerrt war. So als hätte sie sich furchtbar erschrocken.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Und dann, unvermittelt: „George ... Könnte es sein, dass die Frau eine Tätowierung hat?“
„Ich weiß es nicht, wieso?“
„Na ja, das ist wahrscheinlich dumm von mir aber ... Ich habe eine Kollegin, Liz. Sie hat ein Tattoo auf ihrem linken Schulterblatt. Ich hab´s mal gesehen, letzten Sommer. Weißt du, wir holen ja am Zehnten immer unser Geld ab und von daher kenn´ ich ein paar Mädchen. Ja, und Liz, die hat rote Haare und Sommersprossen und vorgestern ... Na, da war sie halt nicht da.“
Er setzte sich auf, Wasser platschte.
Länger als 48 Stunden tot. Das hatte Dr. Malcom bereits festgestellt.
„Eine Tätowierung, sagst du? Vielleicht ist das ein Hinweis. Ich melde mich wieder!“

„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind!“
Malcom winkte ab. „Um ehrlich zu sein, Inspector, war ich noch gar nicht fort. Ihr Anruf erreichte mich in meinem Büro. Möchten Sie mir vielleicht dorthin folgen? Ich habe gerade etwas Teewasser aufgesetzt.“
„Doktor, es geht um den Fall ...“
„Das ist mir durchaus bewusst. Und gerade deshalb sollten Sie mit mir eine Tasse Tee trinken. Ich für meinen Teil kann dabei wunderbar nachdenken.“

„Ein ausgezeichneter Tee, nicht wahr?“ Dr. Malcom lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. „Viel besser als der, den unser bedauernswerter Rotschopf zuletzt genossen hat.“
„Wie bitte?“
„Nun, George, es hat sich herausgestellt, dass das Mädchen nicht an den Messerstichen gestorben ist.“
„Aber die Heftigkeit und die Anzahl ...“
„Richtig. Hätte das Opfer zu diesem Zeitpunkt noch gelebt, wäre es unter einer derart brutalen Attacke zweifellos zu Tode gekommen.“
„Die Frau war schon tot?“
Der Doktor stellte seine Tasse auf dem Tisch ab, nickte.
„Exakt. Sie wurde mit einer Tasse Tee vergiftet.“

Everett folgte Dr. Malcom durch die langen Korridore des gerichtsmedizinischen Instituts.
„Finden Sie es nicht ein wenig unheimlich, so spät allein hier zu sein?“
„Nein, warum? Mit meinen Patienten habe ich hier mehr Gesellschaft, als ich zuhause hätte. Wissen Sie, Sie sind nicht der einzige, dem die Frau davongelaufen ist.“
Er fĂĽhlte sich mies, trotz des Plaudertons, den der Doktor angeschlagen hatte. Er starrte auf seinen Ehering und fragte sich, ob Ann ihren auch noch trug.

„Treten Sie doch näher.“ Dr. Malcom enthüllte den blassen Körper auf dem Edelstahltisch.
„Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich das arme Ding jetzt nicht herumdrehen werde. Sie können mir dennoch glauben, dass sich auf diesem Leichnam nicht die kleinste Tätowierung befindet.“
„Könnte sie entfernt worden sein?“
„Könnte.“
Dr. Malcom trat an einen kleinen Arbeitstisch und winkte Everett heran.
„Sehen Sie, hier habe ich Fotografien sämtlicher Körperareale. Wo sollte besagte Tätowierung denn gewesen sein?“
„Schulterblatt. Links.“
„Ah ja. Sehen Sie, George: Nichts. Nur blasse Haut und Sommersprossen.“
„Und wenn es entfernt wurde?“
„Unmöglich.“
Everett verschränkte die Arme, wartete auf eine Erklärung.
„Das Entfernen von Tätowierungen mag heutzutage gängige Praxis sein. Jedoch verläuft es nicht, ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn diese Frau die wäre, für die Sie sie halten, dann wäre der Eingriff gerade mal ein paar Monate her. Bei einem Menschen dieses Hauttyps könnten Sie dann sogar noch erkennen, welche Form die Tätowierung hatte.“
Everett brummte, fuhr sich unschlĂĽssig mit der Hand ĂĽber den Nacken.
„Inspector, wissen Sie noch, was ich Ihnen über die Todesursache sagte?“
„Tee.“

Vergifteter Tee. Everett wusste, dass Giftmorde sehr viel häufiger von Frauen als von Männern vergeübt wurden. Auf der Fahrt nach Hause grübelte er darüber nach, wer ihn da hinters Licht führen wollte: Eine Frau, die mit Gift tötete und anschließend einen Messermord fingierte? Oder ein Mann, der nur deshalb zu einer Frauenlist gegriffen hatte, um von sich selbst abzulenken, dann aber – nach typisch männlichem Verhaltensmuster – seine Aggression und Brutalität mit Messerstichen an seinem Opfer auslebte? Letzteres schien ihm unlogisch. Der Täter war eine Frau.

Am nächsten Tag fand er eine Nachricht von Dr. Malcom vor, mit der Bitte, ihn anzurufen.
„Guten Morgen Doktor. Haben Sie noch etwas herausgefunden?“
„In der Tat! Um es kurz zu machen: Suchen Sie nach einer Linkshänderin!“
Everett fuhr sich mit der freien Hand durchs Gesicht, massierte seine Augenlider.

Die nächsten drei Tage versuchte er, Sally zu erreichen. Er wollte ihr sagen, dass die Tote nicht Liz war. Aber Sally meldete sich nicht. Er fand heraus, bei welcher Agentur sie unter Vertrag stand. Miss Benett, die Chefin, erklärte ihm, dass Sally sich vor zwei Tagen krank gemeldet habe.
„Wahrscheinlich hat sie sich bei Liz angesteckt.“
„Bei Liz? Arbeiten Ihre Angestellten nicht von zuhause aus?“
„Doch, das ist richtig. Aber am Lohntag hatte Liz angerufen, dass Sally das Geld für sie abholen soll. Sie hatte eine schrecklich heisere Stimme. Aber sie arbeitet trotzdem. Manche Männer finden rauchige Frauenstimmen schließlich heiß.“
Everett brummte.
„Sally allerdings hat es schlimmer erwischt. Sie verzichtet vorerst aufs Telefonieren.“
George erhob sich. „Vielen Dank, Miss Benett, Sie haben mir sehr geholfen. Aber in einem Punkt haben Sie Unrecht: Die gute Liz hat es bei weitem schlimmer erwischt.“
Die Agenturchefin verstand nicht.
„Laut Sallys Aussage war Liz am Montag bereits verschwunden. Dass sie Liz´ Geld abgeholt hat, erwähnte sie allerdings mit keinem Wort. Hat mich stattdessen mit einem angeblichen Tattoo auf eine falsche Fährte gelockt. Und sie unterschreibt mit der linken Hand, nicht wahr?“
Miss Benett nickte verblĂĽfft.

Letzte Aktualisierung: 27.12.2011 - 19.20 Uhr
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