Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Susanne Ruitenberg IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Inspiration durch ein Bild | Januar 2012
Die neue Schule
von Susanne Ruitenberg

Sandra blieb an der Straßenkreuzung stehen und sah herĂŒber zu dem hĂ€sslichen ZweckgebĂ€ude. Grauer Waschbeton. Graffiti. FensterlĂ€den baumelten in ihren Verankerungen wie verrutschte Augenlider. Vielstimmiges Gejohle schallte vom Schulhof herĂŒber.
Sie holte tief Luft und ging ĂŒber die Straße. Vor dem Schultor stand ein ganzer Pulk Ă€lterer SchĂŒler, rauchend. Instinktiv schlĂŒpfte sie am Ă€ußersten Rand, so weit wie möglich von ihnen entfernt, durch das offen stehende Tor. Einer murmelte etwas, die anderen lachten. Tiefe Teenagerstimmen, von ihren Besitzern noch nicht beherrscht, laut, brutal, prollig. UnwillkĂŒrlich zog sie den Kopf ein und beschleunigt ihre Schritte. Auf dem Schulhof war ein Fußballspiel im Gang, ein Ball flog mit Karacho in ihre Richtung. Mit Absicht auf sie gezielt oder zufĂ€llig? Sie duckte sich darunter hinweg, rannte fast, von lachenden Stimmen verfolgt. Jeden Moment könnte ein extrascharf geschossener Ball ihren RĂŒcken treffen; nur nicht umsehen, weitergehen, schneller; wie gut, dass sie die flachen Sandalen angezogen hatte.

Sie sitzt vor dem Klassenzimmer auf dem Boden und unterhĂ€lt sich mit Detlef. Ihre FĂŒĂŸe in den flachen braunen, von Mutti ausgesuchten Sandalen stehen wie zwei Soldaten an den Enden ihrer ausgestreckten Beine. Auf einmal Tritte gegen ihre Sohlen. „Was sind denn das fĂŒr Sozialtreter?“ Sie blickt in eine hĂ€misch verzogene Fratze. Eine von der Clique, eine von denen, die sie immer Ă€rgert. Zum GlĂŒck ist die Pause bald vorbei.

Es lĂ€utete zur dritten Stunde, die SchĂŒler strömten nach innen. Sandra stellte sich unter einen Schaukasten und studiere die AushĂ€nge, ohne ein Wort von dem zu begreifen, was sie las. Erst als der Pausenhof sich geleert hatte, betrat sie das GebĂ€ude durch die offen stehenden DoppeltĂŒren.

Jeden Morgen das gleiche Ritual. Innehalten an der Treppe, die hinunter zum Schulhof fĂŒhrt. EingĂ€nge beobachten, AbwĂ€gen. Wo stehen sie heute, die drei, die sie mit Fußtritten quer ĂŒber den Schulhof gejagt haben, weil die Englischlehrerin ein nettes Wort zu ihr gesagt hat? Jeden Morgen Ausschau halten, welcher Eingang ist heute sicher?

Sie folgte dem Hinweisschild: „Verwaltung“. Als sie an einer MĂ€dchentoilette vorbeikam, meldete sich ihre Blase und sie betrat den Raum. Beschmierte WĂ€nde, Uringeruch, der ihr die Luft nahm. Sie suchte eine der Kabinen auf, hockte sich ĂŒber das WC, nur nichts berĂŒhren. Papier gab es natĂŒrlich nicht, ein Taschentuch aus der Hosentasche musste reichen. Obszöne Zeichnungen bedeckten alle WĂ€nde, dazwischen braune Flecken, von denen sie nicht wissen wollte, wie sie entstanden waren.
Sie wusch sich die HĂ€nde mit eiskaltem Wasser, Seife und HandtĂŒcher gab es nicht, aus alter Gewohnheit schlenkerte sie die HĂ€nde in der Luft und fischte noch ein Taschentuch heraus, wĂ€hrend sie den Waschraum verließ.
Ein paar Meter weiter stand eine Gruppe SchĂŒler wartend vor einer verschlossenen TĂŒr. Ein MĂ€dchen fiel ihr ins Auge: braver, biederer als die anderen gekleidet, sie stand abseits, allein, ausgegrenzt, die anderen, die mit den Trendklamotten, sahen sie nicht mit dem Hintern an und fĂŒr einen Moment wurde Sandra dieses MĂ€dchen. Im Vorbeigehen hörte sie, wie die Modischen sich lustig machen ĂŒber die Brave, die nichts hatte und nichts durfte.
Sie bog in den nĂ€chsten Gang und erstarrte. Eine SchĂŒlerin stand in der Ecke, belagert von zwei Jungs, nein, nicht belagert, sie hielten ihre Handys in der Hand, tippten mit fliegenden Daumen und unterhielten sich.
Bevor Sandra die Barriere hochfahren konnte, explodierte eine Erinnerung in ihrem Kopf.

Wahlpflicht Physik. Sie hat damit nichts am Hut, aber mit dem Lehrer, fĂŒr den sie schwĂ€rmt. Herr MĂŒller hat sich verspĂ€tet.
Gregor und seine Freunde, mehrfach sitzengeblieben, drei Jahre Ă€lter als Sandra, langweilen sich, suchen sich ein Spielzeug, ein Opfer, und natĂŒrlich fĂ€llt ihre Wahl auf sie. Sie will fliehen, kann nicht, eingekeilt, drangsaliert, oh, wie sie diese Schule hasst, diese brutalen Kinder aus den HochhĂ€usern, warum musste es ausgerechnet diese Schule sein?


Beim Weitergehen warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah genau auf die Sporthalle. GrĂŒne Betonfarbe.
GrĂŒne.
Wie damals.
Betonfarbe.
In abgestuften Streifen.
Das Sportfest.

Sie mĂŒssen alle als Zuschauer hingehen, auch wenn sie nicht mitturnen. Sandra sitzt allein, wie immer. Nicht lange. Die vier, die sie immer drangsalieren, finden sie, setzen sich um sie herum, zupfen an ihrer Kleidung, schubsen, boxen, hĂ€nseln, peitschen mit Worten. Sandra duckt sich, die volle Halle wird unsichtbar, reduziert sich auf diese vier und sie; niemanden interessiert es, was ihr widerfĂ€hrt. Die Angriffe geschehen subtil, Lehrer sind sowieso keine in der NĂ€he. Die Angst dehnt Minuten zu quĂ€lenden Stunden. Irgendwann ist es zu Ende, Sandra weiß heute nicht mehr, wie sie entkam.

Endlich stand sie vor dem Verwaltungstrakt. Sandra schob eine widerspenstige HaarstrÀhne hinters Ohr. Eine Mutter kam ihr entgegen, an der Hand ein weinendes MÀdchen, beruhigend redete die Mutter auf sie ein.

Sie steht vor Mutti, erzĂ€hlt von Gregor und seinen Freunden. ErzĂ€hlt von ihrer Angst. Dem Spießrutenlaufen. Der Suche nach dem sicheren Eingang. Mutti schimpft. Sie hat damals die Jungs in ihrer Straße vermöbelt, als sie Kind war. Sandra soll sich nicht so anstellen und ein Schulwechsel kommt nicht in Frage. Ohne Gymnasiasten kann die Gesamtschule nicht funktionieren. FĂŒrs Gymnasium mĂŒsse Sandra mit dem Bus fahren und frĂŒher aufstehen, ob sie das wirklich wolle?

Vor allem hĂ€ttest auch du frĂŒher aufstehen mĂŒssen, dachte Sandra.

Hinter ihr nĂ€herten sich schnelle Schritte. Mehrere grĂ¶ĂŸere Kinder jagten einem kleineren nach, das schreiend in einen Nebenflur abbog. Zwei Lehrer schlenderten vorbei, in ein GesprĂ€ch vertieft. Sie warfen den SchĂŒlern einen flĂŒchtigen Blick zu. Sandra sah ihnen einen Moment hinterher und setzte sich zögernd wieder in Bewegung. Als sie an die TĂŒr des Sekretariats klopfen wollte, trat Direktor Sebring aus seinem BĂŒro, hielt inne, kramte in seinem GedĂ€chtnis nach ihrem Namen, lĂ€chelte schließlich und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. „Frau Göbel, schön, Sie wiederzusehen. Sie möchten Ihre Tochter Alina anmelden, stimmt?“
Sandra schĂŒttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich habe es mir anders ĂŒberlegt.“
Als sie den Schulhof hinter sich gelassen hatte, spĂŒrte sie unendliche Erleichterung.


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 13.01.2012 - 16.00 Uhr
Dieser Text enthält 6503 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.