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Inspiration durch ein Bild | Januar 2012

Die neue Schule
von Susanne Ruitenberg

Sandra blieb an der Straßenkreuzung stehen und sah herüber zu dem hässlichen Zweckgebäude. Grauer Waschbeton. Graffiti. Fensterläden baumelten in ihren Verankerungen wie verrutschte Augenlider. Vielstimmiges Gejohle schallte vom Schulhof herüber.
Sie holte tief Luft und ging über die Straße. Vor dem Schultor stand ein ganzer Pulk älterer Schüler, rauchend. Instinktiv schlüpfte sie am äußersten Rand, so weit wie möglich von ihnen entfernt, durch das offen stehende Tor. Einer murmelte etwas, die anderen lachten. Tiefe Teenagerstimmen, von ihren Besitzern noch nicht beherrscht, laut, brutal, prollig. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein und beschleunigt ihre Schritte. Auf dem Schulhof war ein Fußballspiel im Gang, ein Ball flog mit Karacho in ihre Richtung. Mit Absicht auf sie gezielt oder zufällig? Sie duckte sich darunter hinweg, rannte fast, von lachenden Stimmen verfolgt. Jeden Moment könnte ein extrascharf geschossener Ball ihren Rücken treffen; nur nicht umsehen, weitergehen, schneller; wie gut, dass sie die flachen Sandalen angezogen hatte.

Sie sitzt vor dem Klassenzimmer auf dem Boden und unterhält sich mit Detlef. Ihre Füße in den flachen braunen, von Mutti ausgesuchten Sandalen stehen wie zwei Soldaten an den Enden ihrer ausgestreckten Beine. Auf einmal Tritte gegen ihre Sohlen. „Was sind denn das für Sozialtreter?“ Sie blickt in eine hämisch verzogene Fratze. Eine von der Clique, eine von denen, die sie immer ärgert. Zum Glück ist die Pause bald vorbei.

Es läutete zur dritten Stunde, die Schüler strömten nach innen. Sandra stellte sich unter einen Schaukasten und studiere die Aushänge, ohne ein Wort von dem zu begreifen, was sie las. Erst als der Pausenhof sich geleert hatte, betrat sie das Gebäude durch die offen stehenden Doppeltüren.

Jeden Morgen das gleiche Ritual. Innehalten an der Treppe, die hinunter zum Schulhof führt. Eingänge beobachten, Abwägen. Wo stehen sie heute, die drei, die sie mit Fußtritten quer über den Schulhof gejagt haben, weil die Englischlehrerin ein nettes Wort zu ihr gesagt hat? Jeden Morgen Ausschau halten, welcher Eingang ist heute sicher?

Sie folgte dem Hinweisschild: „Verwaltung“. Als sie an einer Mädchentoilette vorbeikam, meldete sich ihre Blase und sie betrat den Raum. Beschmierte Wände, Uringeruch, der ihr die Luft nahm. Sie suchte eine der Kabinen auf, hockte sich über das WC, nur nichts berühren. Papier gab es natürlich nicht, ein Taschentuch aus der Hosentasche musste reichen. Obszöne Zeichnungen bedeckten alle Wände, dazwischen braune Flecken, von denen sie nicht wissen wollte, wie sie entstanden waren.
Sie wusch sich die Hände mit eiskaltem Wasser, Seife und Handtücher gab es nicht, aus alter Gewohnheit schlenkerte sie die Hände in der Luft und fischte noch ein Taschentuch heraus, während sie den Waschraum verließ.
Ein paar Meter weiter stand eine Gruppe Schüler wartend vor einer verschlossenen Tür. Ein Mädchen fiel ihr ins Auge: braver, biederer als die anderen gekleidet, sie stand abseits, allein, ausgegrenzt, die anderen, die mit den Trendklamotten, sahen sie nicht mit dem Hintern an und für einen Moment wurde Sandra dieses Mädchen. Im Vorbeigehen hörte sie, wie die Modischen sich lustig machen über die Brave, die nichts hatte und nichts durfte.
Sie bog in den nächsten Gang und erstarrte. Eine Schülerin stand in der Ecke, belagert von zwei Jungs, nein, nicht belagert, sie hielten ihre Handys in der Hand, tippten mit fliegenden Daumen und unterhielten sich.
Bevor Sandra die Barriere hochfahren konnte, explodierte eine Erinnerung in ihrem Kopf.

Wahlpflicht Physik. Sie hat damit nichts am Hut, aber mit dem Lehrer, für den sie schwärmt. Herr Müller hat sich verspätet.
Gregor und seine Freunde, mehrfach sitzengeblieben, drei Jahre älter als Sandra, langweilen sich, suchen sich ein Spielzeug, ein Opfer, und natürlich fällt ihre Wahl auf sie. Sie will fliehen, kann nicht, eingekeilt, drangsaliert, oh, wie sie diese Schule hasst, diese brutalen Kinder aus den Hochhäusern, warum musste es ausgerechnet diese Schule sein?


Beim Weitergehen warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah genau auf die Sporthalle. Grüne Betonfarbe.
Grüne.
Wie damals.
Betonfarbe.
In abgestuften Streifen.
Das Sportfest.

Sie müssen alle als Zuschauer hingehen, auch wenn sie nicht mitturnen. Sandra sitzt allein, wie immer. Nicht lange. Die vier, die sie immer drangsalieren, finden sie, setzen sich um sie herum, zupfen an ihrer Kleidung, schubsen, boxen, hänseln, peitschen mit Worten. Sandra duckt sich, die volle Halle wird unsichtbar, reduziert sich auf diese vier und sie; niemanden interessiert es, was ihr widerfährt. Die Angriffe geschehen subtil, Lehrer sind sowieso keine in der Nähe. Die Angst dehnt Minuten zu quälenden Stunden. Irgendwann ist es zu Ende, Sandra weiß heute nicht mehr, wie sie entkam.

Endlich stand sie vor dem Verwaltungstrakt. Sandra schob eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Eine Mutter kam ihr entgegen, an der Hand ein weinendes Mädchen, beruhigend redete die Mutter auf sie ein.

Sie steht vor Mutti, erzählt von Gregor und seinen Freunden. Erzählt von ihrer Angst. Dem Spießrutenlaufen. Der Suche nach dem sicheren Eingang. Mutti schimpft. Sie hat damals die Jungs in ihrer Straße vermöbelt, als sie Kind war. Sandra soll sich nicht so anstellen und ein Schulwechsel kommt nicht in Frage. Ohne Gymnasiasten kann die Gesamtschule nicht funktionieren. Fürs Gymnasium müsse Sandra mit dem Bus fahren und früher aufstehen, ob sie das wirklich wolle?

Vor allem hättest auch du früher aufstehen müssen, dachte Sandra.

Hinter ihr näherten sich schnelle Schritte. Mehrere größere Kinder jagten einem kleineren nach, das schreiend in einen Nebenflur abbog. Zwei Lehrer schlenderten vorbei, in ein Gespräch vertieft. Sie warfen den Schülern einen flüchtigen Blick zu. Sandra sah ihnen einen Moment hinterher und setzte sich zögernd wieder in Bewegung. Als sie an die Tür des Sekretariats klopfen wollte, trat Direktor Sebring aus seinem Büro, hielt inne, kramte in seinem Gedächtnis nach ihrem Namen, lächelte schließlich und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. „Frau Göbel, schön, Sie wiederzusehen. Sie möchten Ihre Tochter Alina anmelden, stimmt?“
Sandra schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich habe es mir anders überlegt.“
Als sie den Schulhof hinter sich gelassen hatte, spürte sie unendliche Erleichterung.


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 13.01.2012 - 16.00 Uhr
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