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Inspiration durch ein Bild | Januar 2012

Alles halb so wild
von Helga Rougui

"Egon, glotz nicht so blöd – haste wieder ohne Ende ferngeguckt gestern nacht -? Horrorfilme, ne? Merkste eigentlich nich, daß dir hinten die Suppe am Arsch runterläuft?"

Kevin lachte schadenfroh und umtanzte den kleinen dicken Jungen mit dem überdimensionalen Rucksack auf dem Rücken, aus dem es feucht und saftig tropfte – aus dem Rucksack, nicht aus dem Jungen, natürlich.
"Son Mist", ächzte Egon und ließ das 20 Kilo schwere Teil auf den Schulhof plumpsen. Hastig öffnete er die Schnalle. Zuerst mal fiel ihm die überlebensgroße Wachshand entgegen, die er heute morgen noch schnell obendrauf gepackt hatte. Eine Plastiktüte war einfach nicht aufzutreiben gewesen, aber er konnte nicht schon wieder ohne das dämliche Dings - das "Objekt" - im Kunstunterricht erscheinen. Noch ne Runde Nachsitzen bei der alten, fetten, müffelnden Kiebel, da hatte er nun echt kein' Bock drauf.
Inzwischen war der gesamte Inhalt seines Ranzens um ihn herum verteilt, Bücher, Hefte, Federmäppchen, Pausenbrot, Gummiball, Milky Ways – alles rot besprenkelt, und sogar die Wachshand sah aus, als hätte sie rotlackierte Fingernägel. Ganz unten kamen zwei zerquetschte Halbliter-Trinkpäckchen zum Vorschein, die inzwischen ihren gesamten Inhalt - Multi-Mangroven-Maracuja-Saft - durch den Boden der Tasche sowie auf alles in der Nähe Erreichbare abgegeben hatten.
"Was für eine schweinemäßige Sauerei hä hä. Das sieht ja aus wie alles vollgeblutet", schrie Dennis, und Johanna schnappte das sofort auf und quietschte lauthals und gnadenlos:
"Iiiiiiiiiihhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!!!!!!!!Bluuuuuuuuuuuut!!!!"
Während alle Mädchen um Johanna sich dem Gekreisch anschlossen, kam die Lehrkraft herbeigerannt, die vor der ersten Stunde Frühaufsicht hatte, und rief:
"Egon, was ist passiert, um Gotteswillen? Hast du dich verletzt?", während sie vorsorglich schon einmal ihr Gebiß entblößte. Manchmal kam es auf Sekunden an.
Egon dachte nur, ach nee, die Schmitz-Dreifus jetzt nicht auch noch, die labert einen immer so zu, Mann, das kann dauern. Er versuchte fahrig, mit ein paar Tempotüchern die rote Soße oberflächlich aufzusaugen, als es schon zum ersten Mal klingelte. Plötzlich stand er mit der Lehrerin alleine da. Die anderen hatten eilig begonnen, sich in ihre Klassen zu verziehen.

"Alles halb so wild, Frau Schmitz-Dreifus, nix passiert, mir is da nur was ausgelaufen... "

Warum guckte die so komisch? – und lächelte mit ihrem voll ausgefahrenen strahlenden Gebiß, und Mann, was waren das für Hauer, die hatte ja Zähne wie ein Wildschwein – oder...

"Ja?? Oder??? Wie was????", zischelte Frau Schmitz-Dreifus, die offensichtlich Gedanken lesen konnte.
Hilfe, dachte Egon noch, wo sind denn alle hin – Hilfe - ich muß hier weg –
"Komm, isch helf dir schoo beim Aufffschammmln", spuckte es durch die glänzenden Zahnreihen heiße Tröpfchen, und zwei scharfe Eckzähne näherten sich dem Hemdkragen und dem feinen weißen Hals des Jungen, "komm, auf dich kleine runde weische reife Fffflaume hab ich schon den ganschen Winta gelauert – du wirscht mir schmeggn main Süßaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhh!!!!! schoß Egon hoch wie von der Tarantel gestochen. Er saß aufrecht und zitternd im Bett und atmete schwer. Was für ein Alptraum war das denn bitte? Der absolute Horror! Und bäh, diese spitzen Beißerchen! Vielleicht hatte Mam ja recht und man sollte kurz vorm Schlafengehen nicht mehr unbedingt "From Dusk Til Dawn" bis zum Ende gucken.
Egon beruhigte sich langsam. Gottseidank, nur ein Traum.
Aber - ...
Kurzentschlossen krabbelte er aus dem Bett und machte Licht in seinem Zimmer.
Griff sich seinen Schulrucksack, entleerte ihn völlig und füllte ihn neu – zuerst die schweren Bücher, dann die Hefte, dazu sein Federmäppchen, die beiden Trinkpäckchen in die linke äußere Seitentasche, das Pausenbrot in die rechte. Und so, ordentlich gepackt, blieb im Rucksack sogar noch Platz für sein Kunstobjekt, den Arm stopfte er seitlich neben die Bücher, so konnte er nicht herausfallen, und fröhlich winkte nun oben die Hand heraus, an der sie im Unterricht schon seit Stunden modellierten.

Egon stieg wieder ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen kam ihm noch eine Idee.
Was, wenn er seiner Hand noch richtig schön knallrote Nägel malte, so wie seine Mam sie immer hatte, wenn sie mal ohne ihn abends wegging?
Das wäre doch der Knaller und die alte Kiebel müßte ihm endlich mal ne Eins –

- selig und zufrieden schlief er ein.

Und der Vampir auf dem Bettpfosten lachte still.

Letzte Aktualisierung: 04.01.2012 - 17.36 Uhr
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