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Inspiration durch ein Bild | Januar 2012

Maskenball
von Katharina Conrad

„So siehst du dich? Ich hatte ja keine Ahnung - warum hast du dich nicht schon früher an mich gewandt?“
Dr. Sybille Bernstein tippte mit der Spitze ihres Bleistiftes auf die Skizze und versuchte über den Rand ihrer Lesebrille hinweg in Gregors Miene zu lesen. Suchte nach Rissen in dieser Maske der Unschuld.
Gregor – Perfektionist in Sachen Seelencamouflage - blieb äußerlich ungerührt, gelangweilt beinah, doch innerlich frohlockte er. Sie hatte angebissen.
Dabei war sie eine harte Nuss, diese Frau Doktor. Fräulein Rührmichnichtan.
Pure Provokation für einen wie ihn. Allein schon ihre Nase, spitz wie ihr Schreibutensil, so spitz wie die Gipfel der hügeligen Landschaft unter ihrem Pullover, und doch gab sie sich so verdammt zugeknöpft und professionell. Gregor würde sie schon dazu bringen, sich zu vergessen, sich und ihr lächerliches Diplom.
Er würde …
Ein krrks! unterbrach seine weitere Detailplanung, als die Graphitmine unter Dr. Bernsteins Fingern brach und einen unschönen Schnitzer auf Gregors improvisiertem Selbstportrait hinterließ.
„Wirklich, Frau Doktor, geht man so mit den Werken von Hilfesuchenden um? Das hatte ich mir anders vorgestellt … Wie soll denn das Spaß machen?“
„Das ist keine Vergnügungsveranstaltung, Gregor.“ Sie wischte seine Beschwerde beiseite, ebenso wie die Graphitkrümel auf dem Skizzenblock.
Erneut taxierte sie das Bild. Versuchte das, was sie dort sah, mit der Person, die sie vor sich hatte, in Einklang zu bringen.
Interessiert betrachtete Gregor, wie sich Abscheu, Neugier und Mitleid in ihrer Miene abwechselten und wartete gespannt, was davon wohl am Ende die Oberhand gewinnen würde.
„Sag mal, soll das Blut sein, was da aus dem Ranzen tropft?“
Gregor hob die Brauen und beugte sich über das Blatt, als sähe er es zum ersten Mal. Dr. Sybilles penibel-sauber-Duft stieg ihm dabei in die Nase, aber unter diesem verbarg sich ein ganz anderer ... Reifer. Herausfordernder …
In seinem Nacken begann es zu kribbeln, und nicht nur dort, aber er ließ sich nichts anmerken.
„Kann sein“, meinte er und zuckte die Schultern. „Aber ich weiß es nicht genau - könnte auch Tomatensaft sein.“
Sein Grinsen war provokant wie das des Schuljungen auf dem Papier.
„Hör mal, junger Mann, wir sitzen deinetwegen hier, vergiss das nicht!“
Frau Dr. Penibel lehnte sich zurück und nahm ihre anregende Duftwolke mit sich.
Gregor seufzte.
Leider hatten all die Jahre des Psychologiestudiums sie nicht befähigt, ein kleines Seufzen richtig zu deuten.
„Ich verstehe, dass dich die ganze Situation furchtbar nervt“, so ihre Fehlinterpretation. „Aber du weißt schließlich selbst, dass du ein Problem hast. Lass mich dir helfen, dafür bin ich da. Für dich und all die anderen da draußen an der Schule. Also …?“
Sie wollte es so. Also tat ihr Gregor den Gefallen.
Mühelos schlüpfte er in die Rolle des Opfers.
Er lehnte sich zurück, faltete kurz die Hände in seinem Schoß. Begann, höchst konzentriert imaginäre Trauerränder unter seinen Fingernägeln wegzuknibbeln, als schinde er Zeit, um Hemmungen zu überwinden – der reuige Novize.
Schließlich atmete er einmal tief durch und ließ seine Brust wieder zusammensinken. Öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Dann sprach er, leise wie ein verängstigtes Mäuschen unter dem Schnee.
„Wenn's wirklich sein muss. Ist nicht einfach für mich ... Ähm - früher, da haben alle auf mir rumgehackt. Ich hab mir fast die Hosen voll gemacht auf dem Weg zur Schule.“
Kurz schielte er zu Dr. Sybille und fand das erhoffte, das erwartete Mitgefühl in ihren Augen. Trotzdem legte er noch ein wenig nach, sicherheitshalber.
„Ich war halt noch dazu immer der Kleinste.“
Wohlplatzierter Seufzer. Dann Pause.
Dr. Sybille nickte verstehend, und Gregor musste sich zwingen, nicht schon wieder breit zu grinsen. Er war sich bewusst, wie das Spiel seiner Kaumuskeln auf sie wirken musste.
Tatsächlich zückte sie sofort ein Taschentuch und hielt es ihm hin.
„Da war dieser Mike“, fuhr er fort und ignorierte das Tuch. „Ein Fiesling aus der Achten, der hatte nur einziges Hobby. Er nannte es `Hühner rupfen`! Und Federn lassen musste dabei immer nur einer, nämlich ich. Klarissa aus der Neun, dieses Miststück, die war fast noch schlimmer. Die meinte, sie müsste ihre Fingernägel an meinem Gesicht feilen ...“
Dr. Bernsteins mitfühlende Aufmerksamkeit war ein Sturzbach auf Gregors Mühlen.
„Immer musste ich einstecken! Sie haben mir mein Pausenbrot gestohlen und meine Hausaufgaben in den Fluss geworfen, und einmal hat Klara meine Nasenspitze rot lackiert. Aber diese Zeiten sind vorbei, verdammt noch mal!“
Jetzt hob er den Blick, straffte die Schultern und richtete sich auf, überragte Dr. Polierter-Bernstein mit einem Mal um wenige stolze Zentimeter. Das Häufchen Elend war Geschichte.
„Das ist lange her. Keiner von denen ist noch an der Schule, nur ich bin übrig. Jetzt bin ich der Stärkste.“
Er war ein Krieger. Seinen Anspruch auf Macht hatte er sich rechtmäßig erkämpft. Gregor fühlte seine Kraft, seine Männlichkeit durch seine Adern rasen.
Frau Dr. Sybille kam ihm ganz nahe, versuchte, ihn mit ihren Blicken zu greifen. Sie musste das doch auch spüren - gleich würde er sie ...
„Und darum malst du dich mit einem Schulranzen, aus dem Blut tropft? Hat dich mal jemand so verletzt, dass du bluten musstest?“
„Meine Seele hat geblutet, Mann!“, bellte Gregor, der an das dämliche Bild schon gar nicht mehr gedacht hatte.
Dr. Bernstein räusperte sich und lehnte sich wieder zurück.
„Deine Seele, ah ja. Und darum wünscht sich deine Seele jetzt, andere bluten zu sehen, ist es das, was du sagen willst?“
„Woher soll ich denn das wissen! Ich bin hier nicht die Schulpsychotante.“
„Gregor – das reicht! Du wolltest, dass wir das hier tun.“
Wir könnten hier ganz etwas anderes tun, wisperte etwas in Gregors Kopf, und seine Augen blitzten gefährlich.
Dr. Sybille Penibel-Sauber lief bis unter ihre spitze Nase dunkelrot an, aber Gregor hatte sich noch nie für den Unterschied zwischen Scham und Wut interessiert. Sie reagierte auf ihn - bedeutete das etwa nicht, dass sie tief drinnen dasselbe wollte?
„Hoffnungslos“, befand sie stattdessen.
Schlagartig wurde Gregor bewusst, dass sie die Sitzung hier abbrechen würde. An welcher Stelle war sie ihm vom Haken geschlüpft? Ihm? Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
„Du musst dringend an einem Gewalt-Deeskalations-Seminar teilnehmen. Unsere Zusammenarbeit wird in in dieser Form kaum Erfolg haben, es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann. Hör auf, mich so anzuschauen, das macht mir ja Angst. Und lass diesen anzüglichen pubertierender-Schüler-Blick, dafür sind wir viel zu alt!“
Ihr Lächeln geriet schief.
Schnell raffte sie Skizzenblock und Bleistift an sich und erhob sich von Gregors Küchentisch. Mit einer Hand an der Tür erklärte sie: „Diese Art von Nachbarschaftshilfe funktioniert nicht.“
„Meine Schüler werden mich trotzdem überleben“, behauptete Gregor und überlegte gleichzeitig, wie er sie für ihren feigen Rückzug büßen lassen konnte.
„Ja, ich weiß, du findest dich ganz harmlos – aber im Ernst, du musst das in den Griff kriegen, Gregor! Ach, bevor ich es vergesse: Steffi kommt morgen nicht in den Schwimmunterricht, sie ist unpässlich. Und wegen Timos Geschichtsreferat - unser PC ist kaputt, er musste die ganze Recherche auf Brockhausbasis machen – er schwitzt Blut und Wasser, wenn er an seinen Vortrag denkt, sei diesmal nicht zu hart mit ihm.“
„Würde mir nie einfallen“, log Gregor, und sein Lächeln entsprang echter Freude. Ihre Kinder! Natürlich!
„Du weißt doch, mit der Schulpsychotante muss ich mich gut stellen – sonst lässt sie mich am Ende nachsitzen ...“
Es knallte, als er seine Worte mit einer, wie er fand, witzigen kleinen Geste unterstrich, ein kleiner Klaps nur aufs doktörliche Hinterteil. Das war das Mindeste, was ihm heute zustand.
„Mann, Gregor!“
Noch am nächsten Tag würde sie seinen roten Handabdruck unter ihrem engen Rock spüren, Gregor war sich sicher.
Das nannte er einen bleibenden Eindruck.
Mochte sie ruhig gehen – entkommen würde sie ihm nicht ...


©K.Conrad, Version3

Letzte Aktualisierung: 22.01.2012 - 21.46 Uhr
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