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Inspiration durch ein Bild | Januar 2012

Wandmalereien
von Wolf Awert

Montagmorgen. Wochenbeginn. Grässlichste aller grässlichen Zeiten. Ich eilte durch das Eingangstor mit seinen vor sich hin rostenden Gitterstäben, überquerte den Schulhof und wies noch schnell zwei Schüler zurecht. Rennen und Ballspielen waren hier verboten, weil Frostbeulen den Teerbelag aufgetrieben hatten. Von mir aus hätten die Schüler trotzdem rennen können, aber die Haftpflichtversicherung hatte in solchen Dingen mehr zu sagen als ein einfacher Vertrauenslehrer.

Als ich vor zwanzig Jahren zum ersten Mal über diesen Hof schritt, bedrückte mich das schlichte Betongrau der Wände. Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt. Wie auch an so vieles andere. Die ehemals bunten Farben der Kritzeleien oder Bekanntmachungen, die davon erzählten, wer gerade mit wem, warum und überhaupt, waren längst verblasst. Das Grau der Wände überdauerte alles. Sie lehrten einen abzuwarten. Doch heute sah alles ganz anders aus. Da erstrahlten die Mauern in frischem Weiß.

Die Schule hatte es geschafft, ein paar Eimer Farbe zu erbetteln, und eine Elterninitiative hatte das ganze Wochenende die beiden Mauern zwischen Eingangstor und Schulgebäude weiß gestrichen. Das Grau der späten siebziger Jahre war nun durch ein hygienisch einwandfreies Krankenhausweiß der Jetztzeit ersetzt worden.

Na, wenn das kein Grund zum Feiern war.

Bereits nach der ersten großen Pause meldete der Hausmeister erste Parolen auf den neu angestrichenen Mauern. Bei Schulschluss wurden verschiedene Schmierereien entdeckt, und am Dienstagmorgen verunzierten gleich zwei Graffiti die linke Seite. Noch am selben Vormittag lud Frau Dr. Rennekamp für den nächsten Morgen zu einer Sonderkonferenz eine halbe Stunde vor Schulbeginn ein.

Sie sprach schnell. Einmal, weil wir alle unter Zeitdruck standen, und einmal, weil ihre Erregung keine langen Sätze zuließ. Über Landeseigentum sprach sie, über Verantwortung und den Mangel an derselben, über Vertrauensbruch, das Bild in der Öffentlichkeit und den Undank den Eltern gegenüber.

Ein kleiner Teil des Kollegiums empörte sich mit ihr. Es war der Teil, der sich immer mit ihr empörte. Ein anderer Teil empörte sich, weil er sich ohnehin ständig empörte. Eine jüngere Kollegin wies auf die kreative Komponente der Schüleraktion hin und wurde mit vorwurfsvollen Blicken in ihre Schranken verwiesen. Und ich? Im ersten Moment kam ich mir vor wie ein Statist in einer schlechten Theatervorstellung. Doch je länger die Vorstellung dauerte, desto deutlicher hatte ich das Gefühl, ein Nebendarsteller geworden zu sein, der seinen Text vergessen hatte?

Ich verdrehte mir Hals, weil ich wissen wollte, ob es meinen Kollegen ähnlich ging, aber außer bei den Empörten sah ich nur Teilnahmslosigkeit oder Verärgerung über die fehlende halbe Stunde Schlaf. Dennoch versprachen wir alle, auf unsere Schüler einzuwirken, dass diese doch bitte von einer weiteren Zuwiderhandlung Abstand nehmen mögen.

Am Donnerstagmorgen waren die besten Flächen der Wand bereits besetzt, und die Zahl der Tags hatte beträchtlich zugenommen. Das frische Weiß musste eine enorme Anziehungskraft auf unsere Schüler ausgeübt haben. Für Freitagmorgen dritte Stunde waren deshalb alle verfügbaren Lehrer, die Klassensprecher und der Schulsprecher zu einer internen Konferenz geladen.

Wir Lehrer erschienen nur zu dritt. Frau Dr. Rennekamp, ich, als Vertrauenslehrer, der sich für diese Konferenz von einer Kollegin hatte vertreten lassen müssen, und eine Studienreferendarin, die lernen sollte, wie diese Schule mit ihren Konflikten umging. Die zwölf Klassensprecher saßen dort, wo sonst ihre Lehrer zu sitzen pflegten und fühlten sich entsprechend unbehaglich. Zusammen mit Schulsprecher Martin Heinrichsen ergab das eine unheilvolle Dreizehn.

Der Martin kam gelegentlich mit Blazer und Krawatte in die Schule. Auf die Frage seiner Mitschüler antwortete er meist: „Keine Zeit mich umzuziehen“. Für seine Mitschüler ein deutliches Zeichen für ein zweites geheimes Leben jenseits ihrer Schülerwelt. Schließlich war der Vater politisch aktiv. Ich hielt es für Gehabe.
Martin sprach nur selten, was bei Konflikten für die Lehrer immer hilfreich war. Auch heute beschränkte er sich auf ein aufmerksames Zuhören.

Frau Dr. Rennekamp teilte den Schülern nichts anderes mit, als das, was sie ihren Lehrkräften bereits am Mittwochmorgen gesagt hatte. Mir war nicht wohl dabei.

„Wir reden mal mit den anderen“, sagten die zwölf Klassensprecher am Ende des Gesprächs und auch Martin nickte. Das war es, was Frau Dr. Rennekamp hören wollte.

Am Wochenende opferte der Hausmeister seinen freien Samstag und überstrich die Graffiti mit dem Rest der weißen Farbe.

Am folgenden Montag kam ich wie immer erst zur zweiten Stunde und blieb, als hätte es mich festgenagelt, gleich hinter dem Eingangstor stehen. Die Mauern erstrahlten im wieder gewonnenen Weiß der Unschuld. Bis auf den Abschnitt zwischen einem Vorsprung, der die Reste eines alten Industriekamins enthielt, und einem Haselnussbäumchen, das sich mit ein paar Ästen neugierig über die Mauer lehnte.

Dort klaffte ein Loch.

Und was für eines.

Kein richtiges Loch, wie ich schnell erkannte, aber doch ein Loch. So abgründig tief, wie nur ein stumpfes Schwarz es abbilden konnte. Darum herum ein dunkelrot gezackter Rand, der an die gierigen Lippen eines alles verschlingenden Mund erinnerte. Speichelfäden als Zeichen seiner schmatzenden Gefräßigkeit spritzten in blau ummanteltem Gelb über das Weiß der Mauer.

Saugte dieser Mund ein oder spie er aus? Was immer er tat, er hatte dabei alles, was wir wertschätzten, in Stücke gerissen. Ich konnte einen Kotflügel erkennen und eine Puppenhand. Fleischfetzen wie von einem Schlachter zerteilt, der nur für Gehacktes zuständig war, flogen ebenso umher wie zerborstene Kaffeetassen, ein Kuckuckspärchen mit Sprungfedern, die ihrer Uhr vorausgeeilt waren, und – als Gipfel aller Obszönitäten – eine zerrissene Bibel.

Was ich unten am Fuß der Mauer zunächst als Räder eines Höllenwagens identifiziert hatte, erkannte ich bald als rollende Köpfe. Der von Frau Dr. Rennekamp rollte als dritter von rechts, aber vielleicht sah ich auch nur, was ich sehen wollte.

Ich wurde bereits auf der großen Treppe abgefangen. „Sofort zu Frau Dr. Rennekamp ins Allerheiligste“, flüsterte die Sekretärin mir zu und eilte beflissen vor mir her. Frau Dr. Rennekamp stand, als ich ihr Zimmer betrat, und zwei ungesunde Flecken prangten auf ihren sonst schulhofmauerfarbenen Wangen. Ein flacher Tisch, auf dem sie in guten Zeiten Tee und Gebäck servierte, befand sich zwischen ihr und Martin Heinrichsen. Wen der Tisch vor wem beschützte, konnte ich in der Eile nicht erkennen.

„Darf ich mich setzen?“, fragte ich, nachdem meine Begrüßung ignoriert worden war. Eine Antwort bekam ich nicht, also blieb ich stehen. Gemütlichkeit sah anders aus.

„Wir wissen, dass Sie dafür verantwortlich sind. Sie sind gesehen worden. Ich habe zwei Zeugen dafür. Außerdem haben wir eine ihrer Farbsprühdosen sichergestellt mit Ihren Fingerabdrücken darauf. In Burgunderrot. Kommen Sie also gar nicht erst auf die Idee, irgendetwas abzustreiten.“

Offensichtlich war Frau Dr. Rennekamp bereits so in Schwung, dass sie sich von mir weder unterbrechen, noch aufhalten ließ. Ich blickte zu Martin. Was ging hier vor? Martin war nicht der Typ für Streiche.

„Wieso?“, fragte Martin.
„Wieso was?“
„Wieso dieser Aufwand? Sie hätten doch nur zu fragen brauchen.“
„Wen fragen?“
„Die Schüler. Oder die Signatur lesen.“
„Welche Signatur?“
Die des Künstlers. Sie hätten die Frage nach dem Täter auch ans Schwarze Brett kleben können.“

Ich sah das Gesicht unserer hochverehrten Frau Direktor dunkel anlaufen und entschied, dass etwas geschehen musste.

„Ich glaube, Martin, du schuldest uns eine Erklärung. Schließlich haben eure Eltern ihr freies Wochenende geopfert, um die Schule wenigstens ein bisschen zu verschönern.“

„Das fanden wir auch gut. Wir haben unseren Augen nicht getraut. Letzte Woche. Als wenn jemand mit einem Stock auf einen Bienenkorb geschlagen hätte. Das Gesumm ging durch alle Klassen.“

„Ja und?“, fragte Frau Dr. Rennekamp, die den Zusammenhang zwischen Bienen und dem Beschmieren von Wänden nicht nachvollziehen konnte.

„Und deswegen konnten wir nicht verstehen, warum uns die Schule diese schöne, weiße Wand wieder wegnehmen wollte.“

„Eure Wand?“ Frau Dr. Rennekamp schaute ungläubig.

„Ja, unsere Wand. Schließlich ist die Schule doch für die Schüler da. Nein? Ist sie das nicht? Auch möglich. Kann ja gut sein, dass Sie der Ansicht sind, die Schüler sind für die Schule da. So wie die Heizung, Wandtafeln oder Papierkörbe. Vielleicht brauchen Sie uns auch nur als Zahlen zur Berechnung der Planstellen?“

„Wie kannst du es wagen …“

„Ich glaube, dass die Schule sich fragen sollte, worin ihre Daseinsberechtigung liegt. Und mein Bild hilft dabei, weil es sich nicht mehr beseitigen lässt. Es verschwindet erst mit der Antwort.“

„Wir könnten es überpinseln. Dann wäre es weg“, sagte Frau Dr. Rennekamp.

„Nein“, sagte Martin. „Dafür ist es zu spät. Es hat sich bereits in die Köpfe eingebrannt, und morgen steht es in der Zeitung.“

Frau Dr. Rennekamp hörte Zeitung und setzte sich endlich. Ich suchte nach Zeichen des Triumphes in Martins Gesicht, fand aber keine und setzte mich ebenfalls.

„Setzen Sie sich, Martin“, sagte ich. „Darüber können wir in der Tat reden.“

„Nicht nötig. Es ist doch alles gesagt.“

Und mit diesen Worten drehte Martin sich um und ließ uns zurück.

„Das wird ein Nachspiel haben“, fauchte Frau Dr. Rennekamp.

Ja, das wird es. Mit Sicherheit. Man müsste noch einmal jung sein, dachte ich. Von vorn anfangen können. Und etwas mehr von dieser Rücksichtslosigkeit behalten, die uns im Alltag zwischen den Fingern zerbröselt, ohne dass wir es merken. Aber, zum Teufel noch mal, war das wirklich eine Frage des Alters?

„Herr Altmann, nun sagen Sie doch auch mal was dazu!“

Die Stimme von Frau Dr. Rennekamp riss mich aus meinen Gedanken.

„Ich werde ihm in Kunst eine Eins geben“, antwortete ich. „Und dann noch eine in Zivilcourage, auch wenn die nicht auf seinem Zeugnis erscheinen wird.“

Letzte Aktualisierung: 24.01.2012 - 19.49 Uhr
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