Mit der linken Hand befĂŒhlte er seine Stirn. Fieber wĂŒrde an diesem Faschingsdienstag all seine PlĂ€ne ĂŒber den Haufen werfen! Vermutlich die Aufregung, wie auch bei dem wilden Treiben im LöwenbrĂ€ukeller. Erst zehn Tagen her!
FĂŒr einen Augenblick spĂŒrte Konrad die selbe Erregung wie in der Nacht, als er seine neueste TrophĂ€e in die Hosentasche stopfte. Das Blut hatte er gar nicht beachtet; doch die FontĂ€nen des Genusses in seinem Leib, in seinem Kopf. Unbeschreiblich!
Die Befriedigung hielt an, als er daheim das BeutestĂŒck fein sĂ€uberlich in Plexiglas einbettete. Ganz ohne BlĂ€schen und Risse. Ja, darin war er unterdessen Meister.
Als das stolze GefĂŒhl verebbte, war er leer und wie gelĂ€hmt. Kaum dass er sich noch auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Gut geschlafen hatte er das ganze Wochenende nicht. Er brachte keinen Bissen herunter, lief ziellos durch die StraĂen. Dieses Verlangen, den Beutezug zu wiederholen, erfolgreich zu wiederholen, brannte in ihm. Noch einmal diese Wonne genieĂen! Nur noch einmal! Dann wĂŒrde er es bestimmt bleiben lassen. Die Gier lieĂ keinen Raum fĂŒr andere Gedanken. Nur noch: Wie, wo und wann es sein wĂŒrde.
***
Ohne Daumen und mit vier verkrĂŒmmten Fingern an der rechten Hand war er zur Welt gekommen. Er hörte noch die hĂ€mischen Schreie seiner Kameraden in der ersten Klasse: âKonrad sprach die Frau Mamaâ⊠bis zu âund den Daumen schneidet er ab, als ob Papier es wĂ€r.â Mit ausgestreckten Zeigefingern deuteten sie auf ihn, auf seine missgestaltete Hand. Sie reizten ihn, bis er vor Wut nicht mehr an sich halten konnte. Er sprang auf den NĂ€chststehenden zu, ergriff mit der Linken dessen Hand und biss in den auf ihn weisenden Finger, biss mit solcher Kraft, bis es knirschte und er das Fingerglied im Mund hatte.
Wie triumphierte er, als die Horde mit einem Schlag verstummte. Das hatten sie wohl nicht von ihm, dem KrĂŒppel, erwartet. So, nun hast auch du einen Finger weniger und bist nicht besser dran als ich, war sein erster Gedanke, begleitet von nie erlebter Freude. Den Tadel durch die Schulleitung konnte er da leicht ertragen. Der fiel ĂŒberraschend mild aus.
Das sollte nicht der letzte Finger sein. Gebissen hat er allerdings spÀter nicht mehr.
Als er erwachsen war, lieĂ er sich Werkzeuge anfertigen, die er ĂŒber den Handteller ziehen und mit einem Riemen am Handgelenk befestigen konnte. Werkzeuge aller Art, die ihm das tĂ€gliche Leben erleichterten. Darunter auch eine Schere, eine sehr scharfe Schere, eher Kneifzange.
Seine Opfer waren stets vor Entsetzen so gelÀhmt, dass er rasch abhauen konnte. Also, warum sollte es diesmal nicht klappen.
***
Das Faschings-GedrĂ€nge auf dem Viktualienmarkt ist wie geschaffen fĂŒr sein Vorhaben. Sein Gesicht hinter einer dunklen Maske versteckt, einen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, hĂ€lt seine linke Hand den weiten schwarzen Umhang zusammen. Darunter verborgen sein Werkzeug an der verkrĂŒppelten Rechten. Alles sitzt richtig.
Die mit den Schneeflocken um die Wette tanzenden Marktweiber nimmt er nicht wahr. Nur auf den Augenblick konzentrieren! Angespannt, wie ein Raubtier auf der Lauer, spÀht Konrad nach geeigneter Beute.
Die schunkelnde, grölende Menge mit Bierflaschen in den HĂ€nden, scheidet aus. Auch âdie HĂ€nde zum Himmelâ kann er nicht erreichen, ist er doch nicht sehr groĂ gewachsen.
Aber da, wenige Schritte vor ihm tanzt eine grazile Frau, kaum kostĂŒmiert, aber wunderschön geschminkt mit glitzernden Lidschatten. In ihrer bunten PerĂŒcke verfangen sich Konfetti und Papierschlangen. Hat sie ihn nicht soeben angelĂ€chelt? Misstrauisch ĂŒberlegt er: Kennt sie mich vielleicht und lacht mich aus? Ihre HĂ€nde stecken in Strickhandschuhen, von denen jeder Fingerling in einer anderen Farbe prangt. Im Rhythmus der Musik reckt sie die Arme abwechselnd seitlich von sich. Das ist zu aufreizend! Wie hypnotisiert starrt er nur noch auf die bunten Finger. Einer muss es werden! Die hinteren drei Finger sind angewinkelt, die sind ungĂŒnstig. Aber der Zeigefinger ihrer Rechten. Wenn er von hinten unbemerkt an sie heranschleicht, dann mit seiner heilen Linken ihr Handgelenk schnappt - und rasch zwackt! - Ja, so wird es!
Sein Puls rast. Die winterliche Luft lindert kaum den Strom der SchweiĂperlen auf seiner Stirn. Schon durchströmt ihn die ersehnte Triumphwoge. Nur nicht zittern! Noch fehlen der letzte Schritt und Schnitt.
Die Kapelle spielt jetzt ein langsameres StĂŒck. Mit verzögerten Bewegungen hĂ€lt sie den Arm lĂ€nger ausgestreckt. Die reinste Einladung.
Er packt ihr Handgelenk und fĂŒhlt keinen Widerstand. Die denkt wohl, ich will mit ihr flirten, ĂŒberlegt Konrad, als sich die Dame zu ihm umdreht und ihn gewinnend anlĂ€chelt.
âWie schön, dass Sie gekommen sind!â, sagt sie, als hĂ€tte Sie ihn erwartet. Dem winzigen Mikrofon unter ihrem Kinn schenkt Konrad keine Beachtung.
Er zögert. Ob er es diesmal nicht doch sein lÀsst? Vielleicht soll er sie lieber zu einem Drink einladen. Doch der Trieb ist zu mÀchtig. Die Rechte mit dem scharfen Werkzeug schnellt unter seinem Cape hervor, erfasst in Sekundenschnelle den behandschuhten Zeigefinger und vollendet das Werk. Mit der Linken fÀngt er gekonnt den Finger auf.
Das ging zu glatt. Irgendetwas stimmt nicht. Sie schreit nicht, sie lĂ€chelt noch immer. Kein Blut! Das klang auch gar nicht nach Knochen. Die krachen mehr, das war nur ein leichtes Knacken. Ein Blick auf den von Wolle umhĂŒllten Finger: ein StĂŒck Holz!
Panik ergreift ihn und lĂ€sst ihn erstarren. Ist er hineingelegt worden â mit einem prĂ€parierten Handschuh? Kann sich eine so feine Dame zum Lockvogel erniedrigen? Pfui!
Schon fĂŒhlt Konrad sich von hinten gepackt und hört: âDa haben wir ja den Fingerschnapper!â Drei Kerle, kostĂŒmiert als Kasper, Seppel und Gretel, umringen ihn. Gretel mit einem prĂ€chtigen Schnauzbart holt unter ihrem Dirndlkleid einen Dienstausweis hervor und hĂ€lt ihn Konrad vor die Augenschlitze seiner Maske. âKriminalpolizei!â
3. Version
SL-Februar 2012, Thea Derado
Letzte Aktualisierung: 22.02.2012 - 01.04 Uhr Dieser Text enthält 6033 Zeichen.