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Schlechte Angewohnheiten | Februar 2012

Das Lächeln der Gottesanbeterin
von Sylvia Seelert

Das Klopfen an der Tür schlich sich nur allmählich in mein Bewusstsein. Mein Kopf war angefüllt mit Rhythmus und dem Klackern des Metronoms, mein Körper schwang mit dem Fell der Conga, das unter den Händen pulsierte. Ich war kurz davor in den Höhepunkt eines Flow zu rauschen, einfach alles fließen zu lassen. Doch das Pochen auf Holz gehörte nicht dazu. Irritiert brach ich ab, suchte nach dem Verursacher dieses Geräusches, blickte anklagend auf meinen rot-silber getigerten Kater, der nur einen müden Blick auf mich warf und mir schließlich den Rücken zuwandte.
Es klopfte heftiger. An der Wohnungstür, wie ich nun endlich erkannte. Als ich öffnete, baute sich Hausmeister Kawinski mit seiner bulligen Gestalt vor mir auf. Sein Gesicht war so aufgebläht wie der Hintern einer paarungswilligen Pavianfrau.
„Junge Frau, wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“
„Öh“, murmelte ich verdutzt, blickte auf meine Uhr und antwortete: „Halb zehn. Wieso?“
„Wiesoooo?“
Fasziniert beobachtete ich, wie sein Hals krötengleich anschwoll. Ob wohl gleich seine Zunge herausschnellen und mich packen würde?
„Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Ihr Trommeln durch das ganze Haus schallt?“
„Aber ich übe doch in Maßen. Nie länger als eine Stunde!“
„Wenn hier Kinder sind, die müssen doch um 20 Uhr ins Bett. Das stört!“
„Ähm, aber hier wohnen keine Kinder“, erwiderte ich verwirrt. Wahrscheinlich dachte er dabei an seine Enkelkinder, die ihn manchmal besuchen kamen, in der Regel am Wochenende. Heute war Dienstag.
„Und denken Sie an die arme Frau Bongart. 85 ist sie mittlerweile und gezeichnet durch ihren Schlaganfall. Die quält sich doch schon ab acht Uhr in ihrem Bett!“
Frau Bongart wohnte zwei Etagen über mir.
Sein Finger schwang nun drohend vor meinem Gesicht. Dies war kein Gespräch, um sachlich ein Problem zu diskutieren. Es war ein Befehl. Frau Sander, stramm gestanden, aber dalli. Auf der Stelle haben Sie meiner Anweisung Folge zu leisten. All dies schwang in der Bewegung seines Fingers mit.

Dieser schnellte jedes Mal hervor, wenn ich in seinen Augen etwas tat, was nicht zu seiner Vorstellung einer perfekten Mieterin passte.
Frau Sander, entsorgen Sie große Kartons beim Betriebshof und nicht in der Papiertonne. Die Tonne ist ansonsten zu schnell voll.
Frau Sander, Sie haben schon wieder nicht den Gehsteig gefegt.
Frau Sander, können Sie überhaupt noch durch Ihre Fenster gucken. Meine Frau kann Ihnen gute Putztipps geben.
Dabei fuchtelte er stets mit beängstigender Geschwindigkeit vor meinem Gesicht herum.

Automatisch regte sich mein Widerstand.
„Herr Kawinski, ich habe grundsätzlich das Recht zu musizieren. Sogar bis 22 Uhr!“
„Kommen Sie mir nicht so. Sonst werde ich böse!“
In der Luft lag testosteron-geschwängerte Gewalt. Der Finger verbrüderte sich mit dem Rest seiner Artgenossen und verwandelte sich in eine Fliegenklatsche, die bereit war, auf mich herabzusausen. Das Rot in seinem Gesicht wurde dunkler. Ich stemmte meine Beine fest in den Boden und wich nicht zurück. Die lästige Fliege, die es wagte hier zu wohnen, mutierte zur Gottesanbeterin, die Arme wurden zu dornenbewehrten Klauen, die nach dem Zeigefinger schnappten, um diesen von der Hand abzureißen und zu verzehren.
Zu oft haben sich Finger und Hand an der Fliege vergriffen. Gejagt haben sie das Insekt, es umfasst, mit Händen an Stellen berührt, die der Fliege schadeten, ihre Flügel lahm werden ließ.
Doch nun war die Fliege keine Fliege mehr. Die Gottesanbeterin verspeiste Männchen. Und am allerliebsten deren Finger.

Danach wusch ich mir sorgfältig die Hände, putzte meine Zähne und packte die Trommel zurück in ihre schützende Tasche. Der Flow war weg. Ich würde ihn an einem anderen Tag wieder jagen.
Hausmeister Kawinski begegnete mir eine Woche später im Flur. Schützend hielt er seine rechte Hand vor den Körper. Sie war bandagiert.
„Herr Kawinski, was ist passiert?“, fragte ich höflich nach.
„Die Tür“, murmelte er, „in der Tür eingeklemmt.“ Dabei schaute er mich seltsam an.
„Frau Sander, wegen dem Trommeln …“
Seine Hand wollte nach vorne zucken, doch er hielt sie zurück.
„Wir werden uns schon einig!“, antwortete ich und schenkte ihm das Lächeln einer Gottesanbeterin.

Letzte Aktualisierung: 18.02.2012 - 12.11 Uhr
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