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Schlechte Angewohnheiten | Februar 2012

Martha sagt …
von Martina Bracke

„Martha sagt“, setzte Jochen an, während er sich bückte, um seine Straßenschuhe auszuziehen. So sah er nicht, wie die anderen um ihn herum die Augen verdrehten, die Mienen verzogen und Gesten machten, bei denen sie ihn würgten und schüttelten.
„Martha sagt“, begann Jochen noch einmal, als er unter dem Tisch wieder hervorkam und sich mit rotem Kopf etwas außer Atem zurecht setzte. Weiter kam er wieder nicht, denn gerade jetzt fielen mit einigem Geschepper alle Neune und seine Kumpel riefen wie aus einem Munde: „Runde!“
„Ich hab's nicht gewollt!“, lachte Ernst.
„Egal, das war das hundertste Mal, steht alles im Buch, jetzt ist deine Runde fällig!“, wedelte Valentin mit dem Vereinsbuch.
Alle schrien im Chor und klopften dabei rhythmisch auf den dicken Holztisch: „Runde, Runde, Runde!“, bis die Kellnerin die Treppe herunter stieg.
„Na, Elli, das hat aber gedauert. Hier sind durstige Kehlen! Du willst uns doch nicht auf dem Trockenen sitzen lassen?“, frotzelte Valentin.
„Geht auf mich“, warf Ernst ein.
Von allen Seiten riefen sie Elli jetzt „Pils“ entgegen. Elli nahm die üblichen Bestellungen auf. Zuletzt blickte sie auf Jochen herab und sagte zu ihm: „Und was willst du?“
Jochen errötete, was im Schummerlicht des Kegelkellers nur zu erahnen war, und brachte heraus: „Martha sagt ...“
„O.k., ein Wasser wie immer.“ Elli widmete sich bereits ihrem Block und notierte zu den zehn Pils ein Wasser.
Jochen räusperte sich. „Nein“, kam es einigermaßen fest aus seinem Mund.
Elli hob den Blick und die Augenbrauen. Nach und nach verstummten alle am Tisch und schauten gebannt auf Jochen.
„Martha sagt“, fing er an und die ersten stöhnten, doch Jochen ließ sich nicht beirren, „ich solle mir mal was gönnen.“ Nach einer kleinen, bedeutungsschwangeren Pause sagte er laut: „Ich nehme ein Pils.“ Damit lächelte er sanft in die Runde und stieß auf offene Münder.
„Ein Pils?“, fragte Elli noch einmal nach und Jochen nickte.
„Elf Pils also – und ihr könnt den Mund wieder zumachen.“ Dann stapfte Elli kopfschüttelnd nach oben in den Gastraum.
Ernst schlug Jochen auf die Schulter und meinte jovial: „Mensch, Jochen! Willkommen in der Männerwelt! Hast du deiner Martha den Marsch geblasen?“
„Nein, aber Martha ...“
„Ach egal“, dröhnte Valentin vom Tischende, „weiter geht’s. Wir sind ja nicht zum Vergnügen hier. Auf die Bahn, ihr faulen Kerle!“
Tatsächlich schafften sie ein paar Würfe, bevor Elli mit der Fuhre Pils anrückte. Valentin, der gerade mit einem gekonnten Dreh den linken Bauern geholt hatte und immer noch stand, hob sein Glas und tönte über die Köpfe hinweg: „Auf Ernst, den freundlichen Rundengeber und seine nächsten hundert Abräumer!“
„Prost!“, schallte es über die Bahn.
„Und auf Jochen, der sich ein wohlverdientes Pils genehmigt.“
„Prost!“, echote die Runde.
„Und auf Martha, die ihrem Jochen was gönnt!“
„Auf Martha!“
Mit diesem dreifachen Trinkspruch schwappte das Bier die ausgetrockneten Kehlen hinab.
Bei dieser Runde Pils blieb es nicht. Nachdem der Bann gebrochen war, fanden sich wie immer noch einige Gründe für Runden. Jochen warf seine hundertste Gosse und bekam dafür eine aufgebrummt, Valentin musste seine Urlaubsrunde geben, dann ging es noch auf die kaputte Heizung, das neue Auto und den Besuch der Schwiegermama oder besser: ihre Abreise. Und Jochen gönnte sich noch ein paar Pils. Martha schien heute ein Ehrengast an der Tafel zu sein, während sie sonst am liebsten von allen totgeschwiegen wurde. Jochen blühte auf, redete eine Menge, und niemand störte sich daran, dass jeder zweite seiner Sätze mit „Martha sagt“ begann. Martha durfte heute alles sagen. Und es kamen dabei auch neue Weisheiten zu Tage.
„Martha sagt, ich solle bei diesem Baumarkt mal einen Heimwerkerkurs machen, damit ich als Mann mal anständig bohren lerne.“
Ein großes Gejohle schallte durch den Raum. Jochens Temperatur legte ein paar Grad zu. Rot konnte er allerdings schon nicht mehr werden, denn seine Wangen glühten nach all den Kegelwürfen, Pilsken und erregten Diskussionen.
„Mann, Mann, Martha hat's echt drauf“, grölte Valentin und sorgte für Toben am Tisch.
„Du kannst auch bei mir ein paar Stunden nehmen“, bot Ernst an und Jochen wuchs einige Zentimeter.
„Wenn Martha nichts dagegen hat“, schob Ernst noch hinterher.
„Nee“, meinte Jochen, „das krieg' ich schon klar. Martha ist nicht mehr so, wie sie war.“
„Na, gut ist's“, meinte Ernst und klopfte Jochen vertraulich auf die Schulter. „So habe ich mir das immer für dich gewünscht.“
Nachdem Ernst wieder als Tagessieger feststand und etliche Neune später nahte der allgemeine Aufbruch. Die lärmende Runde kühlte sich erst wieder an der frischen Luft vor der Kneipe ab. Valentin und Ernst hakten Jochen unter, denn dieser schwankte ihnen zu sehr.
„Was wird Martha sagen, wenn du so nach Haus torkelst?“, fragte Ernst besorgt.
„Die steht bestimmt mit dem Nudelholz hinter der Tür!“, antwortete Valentin stattdessen.
„Martha würde sagen“, meinte Jochen dagegen, „man lebt nur einmal.“
„Wie wahr, wie wahr“, nuschelte Ernst und schaute Jochen von der Seite an.
Der jedoch bemerkte nichts von dem verwunderten Gesichtsausdruck seiner Kumpel, sondern kämpfte mehr damit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie halfen ihm noch, den Schlüssel in die Tür zu stecken, versicherten sich, dass er allein die Treppe hoch kam und warfen ihm „Gute Nacht!“, „Alles Gute!“ und „Grüß Martha von uns!“ in einem betrunkenen Flüsterton hinterher.
Jochen schaffte die Treppe, auch wenn er einmal ausrutschte, als die Zeitschaltuhr ihm das Licht auf halbem Weg ausknipste. Endlich stand er im dritten Stock, mühte sich, den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür zu bekommen, brauchte noch zwei Lichtzeiten, rief zwischendurch leise „Martha!“, doch dann hatte er die Tür offen.
Im Korridor hängte er den Schlüssel ans Bord, zog Jacke und Schuhe aus und ging dann, immer noch schwankend, dem Lichtschein nach, der aus dem Wohnzimmer kam. Einen Moment blieb Jochen im Türrahmen stehen und sah auf Martha, die in ihrem Ohrensessel saß, mit einer Decke über den Knien und den Kopf angelehnt. Martha schlief immer sehr fest.
„Ach, Martha“, seufzte Jochen leise, ließ sich zu ihren Füßen gleiten, legte den Kopf auf ihren Schoß und schlief sofort ein.
Schon um fünf erwachte er mit einem gewaltigen Brummschädel zwischen Couchtisch und Ohrensessel liegend. Kurz musste er sich orientieren. Sein Blick fiel auf die ruhige Martha, da erinnerte er sich an den letzten Abend und die Nacht. Leise erhob er sich, zupfte die Decke auf ihren Knien zurecht, schlich ins Bad, duschte, rasierte sich. Dann zog er frische Wäsche an, packte eine kleine Reisetasche mit dem Nötigsten, schaute noch einmal vom Korridor durch die Tür ins Wohnzimmer und wandte sich dann dem Telefon auf der Konsole zu.
Jochen wählte und wartete.
„Ja, hier Jochen Ellerkamp. Sie können mich abholen, Liebfrauenstraße 18, 3. Stock. Ich habe eine Tasche dabei. Ich habe sie gestoßen. Meine Frau. Martha sagt nichts mehr.“
Dann legte Jochen auf, öffnete die Wohnungstür, setzte sich mit seiner Tasche auf die Holztreppe im Flur und wartete auf die schweren Schritte der Polizeibeamten.

Letzte Aktualisierung: 26.02.2012 - 01.25 Uhr
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