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Schlechte Angewohnheiten | Februar 2012

Faschingsfieber
von Thea Derado

Mit der linken Hand befühlte er seine Stirn. Fieber würde an diesem Faschingsdienstag all seine Pläne über den Haufen werfen! Vermutlich die Aufregung, wie auch bei dem wilden Treiben im Löwenbräukeller. Erst zehn Tagen her!

Für einen Augenblick spürte Konrad die selbe Erregung wie in der Nacht, als er seine neueste Trophäe in die Hosentasche stopfte. Das Blut hatte er gar nicht beachtet; doch die Fontänen des Genusses in seinem Leib, in seinem Kopf. Unbeschreiblich!
Die Befriedigung hielt an, als er daheim das Beutestück fein säuberlich in Plexiglas einbettete. Ganz ohne Bläschen und Risse. Ja, darin war er unterdessen Meister.
Als das stolze Gefühl verebbte, war er leer und wie gelähmt. Kaum dass er sich noch auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Gut geschlafen hatte er das ganze Wochenende nicht. Er brachte keinen Bissen herunter, lief ziellos durch die Straßen. Dieses Verlangen, den Beutezug zu wiederholen, erfolgreich zu wiederholen, brannte in ihm. Noch einmal diese Wonne genießen! Nur noch einmal! Dann würde er es bestimmt bleiben lassen. Die Gier ließ keinen Raum für andere Gedanken. Nur noch: Wie, wo und wann es sein würde.

***

Ohne Daumen und mit vier verkrümmten Fingern an der rechten Hand war er zur Welt gekommen. Er hörte noch die hämischen Schreie seiner Kameraden in der ersten Klasse: ‚Konrad sprach die Frau Mama‘… bis zu ‚und den Daumen schneidet er ab, als ob Papier es wär.‘ Mit ausgestreckten Zeigefingern deuteten sie auf ihn, auf seine missgestaltete Hand. Sie reizten ihn, bis er vor Wut nicht mehr an sich halten konnte. Er sprang auf den Nächststehenden zu, ergriff mit der Linken dessen Hand und biss in den auf ihn weisenden Finger, biss mit solcher Kraft, bis es knirschte und er das Fingerglied im Mund hatte.
Wie triumphierte er, als die Horde mit einem Schlag verstummte. Das hatten sie wohl nicht von ihm, dem Krüppel, erwartet. So, nun hast auch du einen Finger weniger und bist nicht besser dran als ich, war sein erster Gedanke, begleitet von nie erlebter Freude. Den Tadel durch die Schulleitung konnte er da leicht ertragen. Der fiel überraschend mild aus.

Das sollte nicht der letzte Finger sein. Gebissen hat er allerdings später nicht mehr.
Als er erwachsen war, ließ er sich Werkzeuge anfertigen, die er über den Handteller ziehen und mit einem Riemen am Handgelenk befestigen konnte. Werkzeuge aller Art, die ihm das tägliche Leben erleichterten. Darunter auch eine Schere, eine sehr scharfe Schere, eher Kneifzange.
Seine Opfer waren stets vor Entsetzen so gelähmt, dass er rasch abhauen konnte. Also, warum sollte es diesmal nicht klappen.

***

Das Faschings-Gedränge auf dem Viktualienmarkt ist wie geschaffen für sein Vorhaben. Sein Gesicht hinter einer dunklen Maske versteckt, einen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, hält seine linke Hand den weiten schwarzen Umhang zusammen. Darunter verborgen sein Werkzeug an der verkrüppelten Rechten. Alles sitzt richtig.
Die mit den Schneeflocken um die Wette tanzenden Marktweiber nimmt er nicht wahr. Nur auf den Augenblick konzentrieren! Angespannt, wie ein Raubtier auf der Lauer, späht Konrad nach geeigneter Beute.
Die schunkelnde, grölende Menge mit Bierflaschen in den Händen, scheidet aus. Auch ‚die Hände zum Himmel‘ kann er nicht erreichen, ist er doch nicht sehr groß gewachsen.
Aber da, wenige Schritte vor ihm tanzt eine grazile Frau, kaum kostümiert, aber wunderschön geschminkt mit glitzernden Lidschatten. In ihrer bunten Perücke verfangen sich Konfetti und Papierschlangen. Hat sie ihn nicht soeben angelächelt? Misstrauisch überlegt er: Kennt sie mich vielleicht und lacht mich aus? Ihre Hände stecken in Strickhandschuhen, von denen jeder Fingerling in einer anderen Farbe prangt. Im Rhythmus der Musik reckt sie die Arme abwechselnd seitlich von sich. Das ist zu aufreizend! Wie hypnotisiert starrt er nur noch auf die bunten Finger. Einer muss es werden! Die hinteren drei Finger sind angewinkelt, die sind ungünstig. Aber der Zeigefinger ihrer Rechten. Wenn er von hinten unbemerkt an sie heranschleicht, dann mit seiner heilen Linken ihr Handgelenk schnappt - und rasch zwackt! - Ja, so wird es!
Sein Puls rast. Die winterliche Luft lindert kaum den Strom der Schweißperlen auf seiner Stirn. Schon durchströmt ihn die ersehnte Triumphwoge. Nur nicht zittern! Noch fehlen der letzte Schritt und Schnitt.
Die Kapelle spielt jetzt ein langsameres Stück. Mit verzögerten Bewegungen hält sie den Arm länger ausgestreckt. Die reinste Einladung.
Er packt ihr Handgelenk und fühlt keinen Widerstand. Die denkt wohl, ich will mit ihr flirten, überlegt Konrad, als sich die Dame zu ihm umdreht und ihn gewinnend anlächelt.
„Wie schön, dass Sie gekommen sind!“, sagt sie, als hätte Sie ihn erwartet. Dem winzigen Mikrofon unter ihrem Kinn schenkt Konrad keine Beachtung.
Er zögert. Ob er es diesmal nicht doch sein lässt? Vielleicht soll er sie lieber zu einem Drink einladen. Doch der Trieb ist zu mächtig. Die Rechte mit dem scharfen Werkzeug schnellt unter seinem Cape hervor, erfasst in Sekundenschnelle den behandschuhten Zeigefinger und vollendet das Werk. Mit der Linken fängt er gekonnt den Finger auf.
Das ging zu glatt. Irgendetwas stimmt nicht. Sie schreit nicht, sie lächelt noch immer. Kein Blut! Das klang auch gar nicht nach Knochen. Die krachen mehr, das war nur ein leichtes Knacken. Ein Blick auf den von Wolle umhüllten Finger: ein Stück Holz!
Panik ergreift ihn und lässt ihn erstarren. Ist er hineingelegt worden – mit einem präparierten Handschuh? Kann sich eine so feine Dame zum Lockvogel erniedrigen? Pfui!
Schon fühlt Konrad sich von hinten gepackt und hört: „Da haben wir ja den Fingerschnapper!“ Drei Kerle, kostümiert als Kasper, Seppel und Gretel, umringen ihn. Gretel mit einem prächtigen Schnauzbart holt unter ihrem Dirndlkleid einen Dienstausweis hervor und hält ihn Konrad vor die Augenschlitze seiner Maske. „Kriminalpolizei!“



3. Version
SL-Februar 2012, Thea Derado

Letzte Aktualisierung: 22.02.2012 - 01.04 Uhr
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