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Schlechte Angewohnheiten | Februar 2012

Von der Kraft des Schreibens
von Wolf Awert

„Zeig mir mal deine Finger, junger Mann.“
Hans-Georg starrte auf seinen Vater. Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, seine weißknöcheligen Fäuste zu öffnen. Es war keine Wut, die seine Muskeln verkrampfte und seinen Körper erzittern ließ, es waren geballte Scham und das Wissen um das, was nun kommen würde.
„Na, wird’s bald.“
Die Fingerspitzen lösten sich von den Handballen, in die sie sich Schutz suchend hinein gegraben hatten, die Finger begannen, sich halbherzig zu strecken, behielten aber ihre gekrümmte Form. Gerade so, als würde ihnen das ein letztes Bisschen Schutz gewähren. Aber Schutz vor diesen Worten gab es nicht. Nichts würde Hans-Georg retten können. Gottergeben schloss er seine Augen.
„Mach gefälligst die Augen auf, wenn ich mit dir rede. Ich will, dass du das ganze Elend deiner abgekauten Nägel selber siehst. Wer solche Nägel hat, pisst auch ins Bett. Soll dich jetzt alle Welt für einen Bettnässer halten?“
Hans-Georg schluckte.
„Die Mama sagt, ich bin nur nervös. Nur nervös. Sonst ist nichts.“
Viel Kraft war da nicht mehr in der Stimme des Jungen. Die war bereits an der Tür zurück geblieben, als er den Raum betrat. Leise sprach Hans-Georg deshalb, beinahe flüsternd. Aber auch leise Stimmen können kein Geheimnis bewahren, wenn man es für alle sichtbar mit sich herum trägt.
„So so, die Mama.“
Die Verächtlichkeit in der Stimme des Vaters schloss gleich alle anderen Frauen mit ein.
„Mir versucht sie immer einzureden, dass Nägel kauen nur eine schlechte Angewohnheit ist. So ein Unfug, aber Mütter müssen wohl ihre Kinder immer in Schutz nehmen. Ich sage dir was, Hans-Georg. Und hör zu, wenn ich dir was sage. Nägel kauen ist keine Angewohnheit. Irgendwo in dir, ganz tief in dir drin, da ist etwas, das ist so was von krank. Etwas, das an dir nagt und dir ins Ohr flüstert: Friss mich auf.“
„Das ist nicht wahr!“
Ein kleiner Schrei voller Empörung und Hilflosigkeit. Ein Schrei, der mehr aus Absicht als aus Wirkung bestand.
„Ich bin nur nervös.“
„Mach dir nichts vor. Auch Tiere können nervös sein. Dann brüllen sie, oder greifen dich an. Aber kein Löwe beißt sich seine Krallen ab. Und die Raubvögel? Hast du schon einmal von einem Adler gehört, der sich die Klauen ausreißt?“
„Ich bin kein Löwe.“
Jetzt war Hans-Georg kaum noch zu hören. Er brauchte seine ganze Kraft, um aufrecht stehen zu bleiben. Aber noch sprach er zu seinem Vater, nicht nur zu sich selbst.
„Nein, ein Löwe bist du wahrlich nicht. Auch kein Adler. Höchstens ein Zwergkaninchen. Und jetzt kannst du mir aus den Augen hoppeln. Ich kann das Elend nicht mehr sehen.“
Hans-Georg floh. Er hatte sich noch nicht ganz herumgedreht, da gingen seine Finger bereits wieder zum Mund und suchten seine Zähne, aber abzukauen war da nicht mehr viel.

Der folgende Morgen sah Hans-Georg in seinem Klassenzimmer über einem Aufsatz brüten. Er sollte über eine kleine Burg schreiben, zu der seine Klasse einen Ausflug gemacht hatte. Hans-Georg setzte seinen Stift an, schrieb - und vergaß alles, was um ihn herum geschah. Er vergaß auch, was die Lehrerin erzählt hatte. Wann die Burg gebaut worden war und warum. Und wie viele Touristen sie heute besuchten. Stattdessen schrieb er von dem Burgherrn, der eine schwere Schuld auf sich geladen hatte. Und von den Gespenstern und Geistern, die ihn deshalb heimsuchten und auch heute noch alle Kinder bedrohten, die sich der Burg näherten. Und nur ein Schüler, ein einziger Schüler unter allen …
Hans-Georg zog die Hand aus der Hosentasche, in die er sie zur Sicherheit versenkt hatte, biss sich in die Knöchel, rieb die Haut des Daumens über die scharfe Kante des Eckzahns, von dem ein Stück abgebrochen war, und mahlte mit seinen Kauflächen auf dem kleinen Finger herum. Der Schreibstift in seiner Rechten war sein Schwert. Er führte es in einem kühnen Hieb von links nach rechts die Zeile entlang, und am Ende der Zeile brachte er es zurück und holte aus, für seinen nächsten Schlag. Die linke Hand war sein Schutz oder sein Schild. Sie war es, die die Wunden empfing, die später vernarben würde. Aber war das nicht egal, so lange es Narben von dem Feld der Ehre waren?
Als Hans-Georg fertig geschrieben und seine Arbeit abgegeben hatte, starrte er voller Entsetzen auf seine Hände. Die Linke rot, an einigen Stellen sogar wund und immer noch feucht von seiner Spucke. Die Rechte, die den Stift gehalten hatte, weiß und trocken. Hans-Georgs Augen wanderten von der einen Hand zur anderen und wieder zurück. Immer wieder, bis endlich sein Blick an der rechten Hand hängen blieb. Ein Gedanke begann sich zu bilden, bekam erst Form, dann Kraft. Hans-Georg zog zischend den Atem durch seine Zähne. Er wusste nun, was er zu tun hatte.

Von diesem Augenblick an, begann Hans-Georg zu schreiben. Er schrieb sich die Angst weg und die Last, die ihn zu Boden drückte. Er schrieb sich Freunde herbei und Hilfe. Und weil die Angst ihn ständig begleitete, schrieb er den ganzen Tag. Jeden Tag. Hans-Georg schrieb mit Bleistift in ein Heft, mit Kreide an Hauswände und mit Spucke auf Tische und Stuhllehnen. Er schrieb eine zweite Gespenstergeschichte und eine dritte und schwebte mit totem Gesichtsausdruck durch die Schulgänge, wenn eine seiner Geschichten es verlangte.
Den Gespenstern folgten die Dämonen. Hans-Georg stampfte mit dem Fuß auf und verzog sein Gesicht zu hässlichen Fratzen. Er schrieb über Odioras, den Dämon des Hasses und über Irasemion, der aus Zorn und Wut heraus geboren wurde. Avarangan war der Dämon der Rache, Desperas Herr der Verzweifelung und Subturil beherrschte den Verrat. Subturil war es auch, dem die Menschen das andauernde, schlechte Gewissen verdankten.
Je länger Hans-Georg über Dämonen schrieb, desto besser lernte er sie kennen. Er stellte fest, dass Dämonen keine Geschöpfe der Finsternis waren, sondern fest an die Menschen gebunden. Um die Dämonen verschwinden zu lassen, brauchte man nur die Menschheit auszurotten. Doch diese eine letzte Geschichte, die schrieb er nicht.
Dafür quälte ihn der Teufel, quälte ihn mit Rufen wie: „Ich komme dich holen“ oder „Zeig mal deine Finger“, so dass er darüber nachdachte, wie er den Teufel ans Kreuz nageln könnte. Nach seiner Geschichte „128 Arten, den Teufel zu töten“ stellte er fest, dass es viel spannender war darüber zu schreiben, wie man ihn bekehren konnte. Mit „Der Teufel im Himmel und Gott in der Hölle“ schrieb er eine Verwechselungsgeschichte und zum ersten Mal etwas, das lustig war. Und als er das Wort ENDE unter die Geschichte setzte, fand er sein Lachen zurück, von dem er glaubte, es hätte ihn schon lange verlassen.
Das Paradies war ihm zu langweilig, also setzte sich Hans-Georg auf einen Sonnenstrahl und ritt darauf zu Erde zurück. Er landete im Gras, staunte darüber, wie grün es aussah, und dachte sich eine Geschichte über ein Kaninchen aus, das an den grünen Blättern kaute.
Hans-Georg legte den Stift aus der Hand. Nachdenklich kratzte er sich an der Nase, zuckte zusammen und schaute auf die Nägel seiner rechten Hand. Sie hatten bereits eine Länge erreicht, die ihn dazu zwangen, sie zu kürzen. Voller Ehrfurcht starrte er auf die runde Schönheit der Fingernägel seiner rechten Hand.

„Zeig mir deine Hände, Junge“, rief der Vater.
Hans-Georg zeigte ihm gleich die abgekaute Linke und hielt die Rechte in der Hosentasche versteckt. Was der Vater ihm zu sagen hatte, interessierte ihn nicht mehr. Es gab noch so vieles zu schreiben.
„Hör zu, wenn ich mit dir rede. Ich will von dir wissen, was aus dir mal werden soll? Weil mit so einem wie dir keiner was zu tun haben will. Sie werden dir aus dem Weg gehen, und du wirst später dein Geld damit verdienen müssen, für andere im Dreck zu wühlen. Hast du mal darüber nachgedacht, was du später machen willst?“
„Ich will lernen“, sagte Hans-Georg.
Der Vater stutzte, fuhr sogar ein wenig zurück. Hans-Georg war selbst überrascht, wie ruhig und fest seine Stimme geklungen hatte.
„Und was willst du lernen? Kannst du mir das mal verraten?“, fragte der Vater.
Da waren Zweifel und Ungläubigkeit in seinen Zügen zu lesen, aber Hans-Georg schaute nicht hin, als er sagte:
„Ich will lernen, mit links zu schreiben, denn mit rechts kann ich es schon.“

Letzte Aktualisierung: 19.02.2012 - 19.58 Uhr
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