Ganz schön bissig ...
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Aberglaube | März 2012
Maskerade
von Jochen Ruscheweyh

„Ich kann nicht mehr, Lizzy, lass’ uns aufhören.“ Long John Silver rollte von mir herunter.
Umständlich.
Der Stumpf unterhalb seines rechten Knies sah wund aus.
Ich streifte mein Hemd über und sagte: „Dann lös’ jetzt dein Versprechen ein!“
Silver rieb sich den Schweiß von der Stirn, nahm seinen Tabaksbeutel und stopfte sich eine Pfeife.
„Du hast den Teufel im Leib, Kleine!“, hustete er. „Und, bist du mir dankbar, dass ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen habe? An was erinnerst du dich? Schlaflieder? Das säh’ ihr gar nicht ähnlich. Sogar die versoffene Vogelscheuche Flint hatte Schiss vor Muriel!“
„Red’ nicht so viel, alter Mann, Flint ist tot, bring mich zu ihr!“

Drei Gestalten. In einem Beiboot. Die Hüte tief ins Gesicht gezogen. Gute zweihundert Fuß vor der Hafenmauer entfernt.
Silver zeigte in ihre Richtung, schwankte, stützte sich auf seinen Stock. „Wirst wohl schwimmen müssen, Kleine! Muriel lässt niemals anlegen, wenn sie jemanden abholt.“
Seine Hand griff ein letztes Mal nach mir, halbherzig, ohne Kraft. Ich schüttelte sie ab.
„Du besitzt denselben Dickschädel wie deine Mutter. Doch, bei meiner Treu, deine Schenkel sind strammer.“
Ich versetzte ihm einen Schlag zwischen die Rippen. Er keuchte etwas von „das Loch aus dem du gekrochen bist“, ehe er zu Boden ging und ich in das brackige Hafenwasser sprang.

„Wir benutzen Segeltuch dazu“, sagte Muriel, und mit einem Dolch trennte sie einen ein Fuß breiten Streifen von der Stoffbahn ab. „Es ist nicht gerade bequem, aber es erfüllt seinen Zweck! Komm, ich zeig’s dir, du musst es wie einen Verband um die Brust anlegen.“
Ein Prickeln, das ich bisher nicht kannte, lief über meinen Nacken, als sie mein Leinenhemd herunterstrich.
„Du musst sie so flach wie möglich schnüren. Kriegst du noch Luft?“
„Gerade eben.“
Muriels schlichte Schönheit stand in vollkommenem Gegensatz zu den verlebten Hüllen der Weibsbilder, mit denen ich sonst um die Gunst von Freiern kämpfte. Ihre wie aus Elfenbein geschnitzten Zähne blitzten kurz auf, verschwanden dann wieder hinter Lippen, von denen ich mir vorstellte, sie wären weicher als die chinesische Seide, mit der mir ein Kaufmann aus Portobello einmal die Augen verbunden hatte.
„Nur eine Regel“, sagte Muriel. Falten traten auf ihre Stirn, aber es lag noch immer kein Erkennen in ihrem Blick. „Du kannst es dir in jedem Hafen bis Port Royal besorgen lassen, aber du bringst keinen Kerl an Bord!“
„Davon hatte ich soviel, dass es für sieben Leben reicht“, antwortete ich.
„Wie du meinst“, gab sie zurück. „Hör zu, segelt ein Mannsbild mit, schwimmt der Klabautermann in unserem Kielwasser.“
„Ich glaube nur, was ich sehe!“, sagte ich.
Sie goss sich ein Glas Portwein ein. „Du bist anders als der Rest der Mannschaft“, erwiderte sie und ließ ein Klappmesser in einer Lade verschwinden.
„Im Nachlass meines Vaters habe ich ein ähnliches ...“, begann ich.
„Richtig. Ein Barbiermesser. Ein erstaunliches Werkzeug! Es öffnet Siegel ohne sie zu brechen!“

„Regeln sind wohl nicht gerade das, was dein Vater dich gelehrt hat, wie man so hört.“
Die Stimme musste irgendwo aus einer der hinteren Kojen kommen.
„Ach ja, und was hört man so?“, fragte ich in die Dunkelheit.
Jemand hustete. „Er soll ein Dieb und Urkundenfälscher gewesen sein.“
„Und keine Mutter, die ihr zeigen konnte, wie man das Brennen und Jucken im Urwald lindert und sich keinen Bastard andrehen lässt, hahahar!“, klang es aus der Koje über mir.
Mit einem Satz war ich auf und drückte mein Messer an den Hals, aus dem die Worte gekommen waren. „Sprich nicht in diesem Ton von ihr!“
„Immer mit der Ruhe, Kleine!“, tönte es zurück. „Wenn du mich abstichst, musst du die Hawk morgen selbst lenken. Ich bin Ngaire und stehe bei Sonnenaufgang am Steuer!“

Ich eignete mir erstaunlich schnell an, so tief und sonor wie Muriel zu sprechen, den Ausguck zu übernehmen und steuerte die Seahawk schon bald um Sandbänke und Korallenriffe, während Ngaire ihren mit neuseeländischen Tätowierungen übersäten Körper der Karibiksonne entgegenstreckte. Um ihren Hals trug sie ein kleines Gefäß an einer Kette. Was darin sei, fragte ich sie einmal. „Kleine, merk’ dir, wir Bukanier verstecken, was wir lieben!“

Als das erste Handelsschiff in Reichweite unserer Geschütze kam, hielten mir Layla und Maria einen Tiegel mit bräunlicher Paste hin: „Hier“, raunte Layla mir zu, „nimm’ und schmier’ es dir in dein Engelsgesicht, Kleine!“
„Wozu soll das gut sein?“, fragte ich.
„Mach einfach!“
Kaum hatte ich die zähe Masse verteilt, klatschte Maria mir etwas auf Wangen und Hals.
„Verdammt, was ist das?“, fuhr ich sie an.
„Schweineborsten!“, Maria küsste ihr Kreuz, das sie um den Hals trug, „aus Jungfrau müsse werden dreckige Pirat mit kratzige Bartstoppel, solche wie die dich mit Boot abgeholt!“
„Maskerade, Kleine! Die christliche Seefahrt zittert nur vor Männern, das war schon immer so und wird auch immer so bleiben!“, fügte Layla hinzu.

Die Erkenntnis, dass Muriel mich beobachtete, wenn ich um Gnade winselnden Kaufleuten und Adeligen den finalen Degenstoß versetzte, erregte mich mehr, als die früheren Begegnungen mit den Männern, die ich auf, unter und hinter mir gehabt hatte.
„Komm her, kleines Biest!“, pflegte Muriel immer zu sagen, wenn wir Gold und Schmuck eingesammelt hatten und drückte mich an ihre harte, flache Brust, an der ich zu gerne verweilte.

Als wir die Molukken hinter uns gelassen hatten, ließ mich Muriel zum ersten Mal in ihre Kabine rufen. „Man erzählt sich, dein Vater sei nicht nur ein Dieb gewesen, er habe dich auch Lesen und Schreiben gelehrt. Bring’ mir bei, wie ich aufschreibe, welche Beute wir wann und wo gemacht haben.“

Nach jeder Lehrstunde durfte ich ihren Rücken und die kräftigen Schultern massieren, ließ meine Finger über das Muttermal wandern, das Silver mir beschrieben hatte. Und jedes Mal, wenn ich zurück in meine Koje schlich, brannte mein Unterleib wie eine Zündschnur, deren Flamme niemals das Schwarzpulver erreicht.


Tag um Tag loderte es mehr und schließlich nahm ich mir eine von den stummen Xosa in meine Koje, unter deren Berührungen ich explodierte. Aber immer, wenn ich wieder bei Besinnung war und das Helle ihrer Augen an meinen Schenkeln aufblitzen sah, wurde mir bewusst, was und an wen ich gedacht hatte, und ich trat den kakaofarbenen afrikanischen Körper, der seinen Zweck erfüllt hatte, grob aus meiner Koje, nur um ihn in der nächsten Nacht gegen eine Handbreit Rum wieder ebendorthin zu locken.


Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich vor einem Menschen Respekt. Muriel. Oder empfand ich Liebe?
Das Gefühl lähmte mich. Wie oft war ich kurz davor, mich ihr einfach anzubieten, so wie ich es bei Mannsbildern unterschiedlichsten Standes ohne Skrupel getan hatte. Dann wurde mir wieder bewusst, dass es nicht sein durfte. Wider die Natur. Silvers Worte: Das Loch, aus dem du gekrochen bist ...


„Hier entlang, Lizzy!“ Muriel und ich fochten uns an Offizieren, Adjutanten und einfachen Seeleuten vorbei unter Deck des holländischen Schoners.
„Psst!“, rief Muriel plötzlich. „Hörst du das?“
Mit einem Hieb meines Degens zerteilte ich den Vorhang. Zusammengekauert, das Gesicht von blonden Locken bedeckt, hockte das junge Weib dort, hübsch, ausstaffiert wie eine Königin.
Ich hob meinen Degen, aber Muriel hielt meinen Arm fest.

Hendrikje - zumindest ihren Namen hatte ich aus ihr herausbekommen - besaß eine helle Haut, die dünn wie Pergament schien. Muriel verbarg die Blonde unter Deck, um sie - wie sie sagte - nicht der Sonne auszusetzen.
„Heute nicht“, ohrfeigten mich Muriels Worte, als meine Hände nach unserer nächsten Stunde über das Muttermal der Bukanierin fahren wollten.
Ich verstand nicht, strich in unachtsamem Zufall über Muriels Wange, die sich rauer anfühlte als meine.
Sie schlug meine Hand weg: „Tu das nie wieder!“


Die Einladungen in Muriels Kabine wurden seltener, blieben dann ganz aus.
Eines Abends, als Ngaire im Opiumrausch ihre Wache verschlief, ließ ich mich mit einem Seil an der Bordwand hinab. Im Schein der Öllampe sah ich, wie sich Muriel hinter einer spanischen Wand an den Körper der anderen schmiegte.
„Ich besitze eine Plantage. Im nächsten Hafen ...“ Eine kräftige Welle schlug gegen die Bordwand. Ich duckte mich, als Hendrikje sich in meine Richtung wandte. Deutlich hörte ich ihren Akzent: „Die holländische Krone wird dir verbunden sein.“

Ich schlief nicht in dieser Nacht, holte die Xosa immer wieder in meine Koje, bis jegliches Gefühl aus mir geflossen war.



Die Holländerin holte ich mir eines Morgens, als die schützende Hand, die für Hendrikjes Unversehrtheit bürgte, in – wie ich annahm – von Portwein geschwängertem Schlaf darniederlag.
Einen Thunfisch zu entgräten fiel mir schwerer als Muriels Meisje die Kehle durchzuschneiden und den blassen Körper ins Wasser gleiten zu lassen.
„Ein Knabe, seht ihr, wir sind verflucht!“, rief ich Ngaire zu und deutete auf das forttreibende Bündel. Niemand der Herangeeilten widersprach mir. Und je öfter ich „Muriel hat einen Knaben in ihrer Kajüte versteckt!“ schrie, desto wahrer schien es zu werden.
Ich verteilte den Rum, den ich zur Seite geschafft hatte.
Den Rum, der uns mutig genug machen sollte, die gefürchtetste Bukanierin der Südsee aus ihrer Kajüte zu zerren, damit ich ihr entgegenschreien konnte: „Weißt du, wer ich bin, Mutter?“

Aber ihre Kajüte war leer.

Ich nahm das Klappmesser aus der Lade und öffnete den Brief, den Muriel hinterlassen hatte:

Ich weiß, was du in mir sehen wolltest, Kleine, aber ich bin es nicht.
Komm, dachtest du, du könntest einem wie John Silver vertrauen?
Wer, meinst du, hat mir die ganze Mannschaft zugeschanzt?
Aber Respekt, ein grandioser Plan, eine Meuterei anzuzetteln und mir obendrein die Möglichkeit zu nehmen, Lösegeld für die holländische Adelsdirne zu verlangen.
Ich glaube, du kannst die größte Piratin der Weltmeere werden. Mit oder ohne Maskerade. Du hast den Teufel im Leib.
Pass nur auf, dass er nicht dich eines Tages holt!

Joshua Flint
18.September 1768





Version 3

Letzte Aktualisierung: 27.03.2012 - 19.37 Uhr
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