Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
„Kann man das länger machen?“, fragte Milena. „Ich bin ein bisschen größer als du, es wird zu kurz sein.“
„Wart es ab. Damals trug man die Kleider bodenlang, und ich hatte sehr hohe Absätze. Vielleicht müssen wir es eher in der Taille auslassen?“
Beate deutete lächelnd auf den leicht gewölbten Bauch ihrer Tochter.
„Sehr witzig, Mama. Dieses Kleid hat keine Taille, das ist ja das Gute daran. Wenn ich Glück habe, sieht man nachher auf den Fotos meine Kugel nicht.“
„Wie sprichst du denn von meinem Enkelkind? Meine Kugel, das hört sich an wie so ein Ding, das Sträflinge am Bein haben.“
Milena lachte und streckte die Arme nach oben, damit ihre Mutter das Kleid über sie stülpen konnte.
„Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht werden. Oder waren wir das für dich, als Kinder? Ein Klotz am Bein?“
Weil Milena noch auf halbem Wege im Kleid steckte, entging ihr Beates Gesichtsausdruck. Vielleicht war es besser so …
„Nein, mein Schatz“, sagte Beate. „Wie kommst du denn auf so etwas?“
Ihre Tochter tauchte aus der Seide auf und drehte sich zum Spiegel. Sie strich über die sanften Wellen, die an ihrem Körper hinabglitten wie flüssiges Porzellan.
„Na so was!“ flüsterte Milena andächtig. „Das sitzt tatsächlich wie angegossen!“
„Na ja, fast.“ Beate zupfte vorn am Ausschnitt und hinten am Reißverschluss.
„Ein bisschen auslassen muss man es schon, in deinem Zustand sind die Dimensionen obenrum einfach andere. Aber es steht dir ganz wunderbar.“
Milena drehte sich zu ihrer Mutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Danke, dass ich dein Brautkleid tragen darf. Es bedeutet mir so viel, und – du weißt ja, der Umzug, die ganzen Anschaffungen, die Kindersachen ... Ein neues Brautkleid könnten wir uns nie im Leben leisten.“
„Schon gut, mein Herz, ich weiß. Aber es ist doch gar nicht wichtig, ob das Kleid neu ist, oder?“
Milena kaute auf ihrer Oberlippe. Beate erinnerte sich, dass sie das schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie etwas Schwieriges formulieren wollte.
„Gebrauchte Kleider bringen eigentlich Unglück, sagt Maja. Fremde zumindest. Aber das hier ist etwas anderes, eher ein Familienerbstück. Du weißt schon, etwas Altes, etwas Neues und so weiter... Dieses Kleid ist das Alte.“
„Ich wusste nicht, dass du abergläubisch bist.“
„Ich auch nicht“, gestand Milena. „Das sind die Hormone.“
Kurz nach der Hochzeit zog Milena mit ihrem Mann in ein kleines Häuschen, das die beiden renovieren wollten. Viele Dinge, die nicht täglich gebraucht wurden, blieben in den Umzugskisten, wo sie vor Wandfarbe und Baustellendreck in Sicherheit waren. Auch das Brautkleid.
Als Beates Enkelkind zur Welt kam, gerieten die Sachen in den Kisten zunächst in den Hintergrund und schließlich in Vergessenheit, bis irgendwann keiner mehr wusste, was eigentlich darin war. Als Milenas zweites Kind unterwegs war und der Platz knapp wurde, beschloss ihr Ehemann, sich ohne viel Aufhebens von den Kisten zu trennen, die seit dem Einzug keinen interessiert hatten und kaum etwas enthalten würden, worauf man nicht auch verzichten konnte. Ohne Milena zu behelligen oder hineinzuschauen, stellte er die Kisten zur Sperrmüllabfuhr an den Straßenrand.
Weit nach Mitternacht durchwühlten Halbstarke die Kartons, auf der Suche nach Brauchbarem – was ein dehnbarer Begriff war, wie die Mutter einer Fünfzehnjährigen am nächsten Tag feststellte.
Sie staunte nicht schlecht, als sie unter dem Bett ihrer Tochter einen Zipfel feinster weißer Seide hervorschimmern sah, und weil die Mutter – genau wie die Tochter – keinen Sinn darin sah, das Kleid den ursprünglichen Eigentümern zurückzubringen, trug sie es in den Secondhandladen zwei Straßen weiter, in dem sie sich und ihre Familie auszustatten pflegte. Die Besitzerin bezahlte sie mit einem Einkaufsgutschein, und für die nächsten langen Monate hing das Brautkleid auf einem Plastikbügel zwischen einer speckigen Lederjacke und einem Skioverall.
Der schneeweiße Stoff umfloss den stillen Körper wie reines, klares Wasser.
Wie durch ein Wunder hatte das Kleid Susanna auf Anhieb gepasst, gerade, als wäre es für sie gemacht. Welch unfassbares Glück! Dabei war sie eigentlich nur zufällig in dem Secondhandladen gewesen, um für eine Freundin Kleider abzugeben. Dann hatte sie das Kleid zwischen all dem alten Zeug hängen sehen und sofort gewusst, das war ihres, dieses und kein anderes. Sie hatte es anprobiert und vom Fleck weg gekauft, obwohl sie noch nicht mal einen Antrag bekommen hatte. Später, zu Hause, als sie das Kleid stolz und glücklich ihrem Freund vorgeführt hatte, da war er vor ihr auf die Knie gefallen, ganz spontan. Zugegeben, ganz so hatte sie sich den Moment nicht vorgestellt, aber was spielte es schon für eine Rolle? Er hatte sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle, sie hatte geweint und natürlich „Ja“ gesagt, und dann hatten sie eine Flasche Sekt aufgemacht und all ihre Freunde angerufen.
Die Hochzeit war als bescheidenes, aber fröhliches Fest geplant gewesen. Witzige Spiele waren vorbereitet worden, und während ihr Zukünftiger und seine Freunde noch mit den Nachwirkungen des Junggesellenabschieds zu kämpfen hatten, ließ sich Susanna von ihren Freundinnen schminken und frisieren. Sie wollten sich am Kirchenportal treffen, kurz bevor die Glocken zur Messe läuteten.
Der Fahrer des Lkws wusste nichts von der bevorstehenden Hochzeit. Er wusste nichts von dem Glück, das zwei junge Menschen besiegeln wollten, die nichts vom Leben geschenkt bekommen hatten, nichts außer ihrer Liebe.
Erst, als er sich nach dem Deckel seines Flachmanns bückte, als er spürte, dass er irgendwas oder irgendwen mit Wucht gerammt hatte, erst in diesem Augenblick kam ihm der Gedanke, dass der Deckel, der ganze verdammte Flachmann auch noch hätte warten können.