Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Aberglaube | März 2012
Die heilige Stichprobe
von Elmar Aweiawa

„Endlich! War auch höchste Zeit!“
Dr. Thomas Simmersdorf strahlte von einem Ohr zum anderen. Seit Jahren waren all seine Bemühungen um Forschungsgelder vergeblich gewesen. Und nun diese Summen.
„Jetzt kann ich endlich die dringend benötigte Aufzuchtsstation finanzieren“, verkündete er freudestrahlend seinem besten Freund und Kollegen Johannes von Stieglitz.
„Du bist eben eine Glückspilz“, gab der zur Antwort.
„Ich weiß. Der plötzliche Geldsegen ist vollkommen unverständlich. Und stell dir mal vor, ohne Bedingungen, außer dass ich es für meine Forschungen über die deutschen Storchpopulationen verwenden soll.“
„Wahnsinn!“
„Ja! Und bei einer Verdopplung der Storchdichte werden mir weitere Beträge in Aussicht gestellt, die erstaunlicher sind als vom Himmel regnendes Manna.“
„Du machst mich fast neidisch“, erklärte Johannes, der sich ganz der Erforschung der Luchse verschrieben hatte.

Sein Verhalten war noch das angenehmste, denn alle anderen Mitglieder des Kollegiums reagierten unverhohlen feindlich auf den plötzlichen Geldregen für die Storchforschung, und als Herr Simmersdorf sich beim Mittagessen in eine Reißzwecke setzte, die ihm ein offensichtlich in die Pubertät zurückgefallener Kollege auf den Stuhl geklebt hatte, wusste er, dass er endgültig zur crème de la crème am Forschungsinstitut gehörte.

Als echten Wissenschaftler plagte Herr Simmersdorf die Neugierde, was diesen überraschenden und radikalen Sinneswandel bei den zuständigen Stellen bewirkt hatte.
„Johannes, mir kommt das Spanisch vor. Warum ausgerechnet die Störche? Bisher waren sie für die da oben so interessant wie eine regennasse Plastiktüte für einen verliebten Wiedehopf.“
„Keine Ahnung! Aber es wäre interessant, das herauszufinden.“

Ihre Nachforschungen ergaben, dass das Geld einem Sonderfond des Bundestags entstammte, von dem die beiden noch nie gehört hatten. Sie folgten den Windungen der Geldpipeline zu ihrem Ursprung, und eines späten Nachmittags standen die passionierten Hobbydetektive vor dem Büro des Abgeordneten Dummerjahn.

„Guten Tag, meine Herren, was kann ich für Sie tun?“
„Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Herr Dummerjahn. Mein Name ist Dr. Simmersdorf und ich versichere Ihnen, dass das Geld, das ich Ihrer Intervention zu verdanken habe, wirkungsvoll und weisungsgemäß eingesetzt wird.“
„Prima, dann ist ja alles in bester Ordnung“, erklärte Herr Dummerjahn jovial und lud sie mit einer Handbewegung ein, näher zu treten. „Nur eines noch: Wer sind Sie und von welchem Geld reden Sie.“
„Das Sie für die systematische Erforschung der Störche lockergemacht haben.“
„Ah, das meinen Sie?! Dieses Projekt hat allerhöchste Priorität. Wie sagten Sie noch, war Ihr Name?“
„Simmersdorf, und das hier ist mein Kollege Professor von Stieglitz. Wir interessieren uns für die Gründe dieses plötzlichen Geldregens, damit wir unsere Forschung besser an den Zielen der Geldgeber ausrichten können.“
An diesem Satz hatten die beiden lange gedrechselt.

„Ja, kennen Sie denn die neueste statistische Untersuchung nicht? Ihnen als Storchforscher - hihihi, ein lustiges Wort – sollte sie doch bekannt sein.“
„Welche meinen Sie denn?.“
„Hier, ich habe meine Ausarbeitung noch auf dem Schreibtisch liegen.“
Der Abgeordnete öffnete ein Dossier und las vor: „Der Artikel »Neue Beweise für die Theorie vom Storch« des Autors Thomas Höfer vom Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin und zweier Koautorinnen in einem Fachblatt für Geburtsstatistiken beinhaltet eindeutig signifikante Ergebnisse.“
Bei dem Wort ‚signifikant’ nahm Herrn Dummerjahns Gesichtsausdruck den eines verzückten Mystikers an, der Meister Eckhart zitiert und vor innerer Spiritualität glüht.

„In Niedersachsen“, las er etwas prosaischer vor, „sank sowohl die Anzahl der Störche als auch der Neugeborenen von 1970 bis 1985, danach blieben beide Werte in etwa konstant. In Berlin nahm zwischen 1990 und 2000 die Zahl der Hausgeburten zu, die Storchenpopulation ebenfalls. Zudem fällt, wenn man in der Bundesrepublik die Verteilung von Störchen und Kindergeburten betrachtet, der Zusammenhang schnell ins Auge: In Gegenden mit vielen Störchen liegt auch die Zahl der Geburten über dem Durchschnitt.“

„Ähem ... und was hat das mit dem zur Verfügung gestellten Geld zu tun?“
„Ja, sehen Sie denn nicht den Zusammenhang?! Wir vom Familienministerium müssen mit allen Mitteln dem Aussterben der Deutschen entgegenarbeiten. Vor allem die Abteilung für Familienplanung und Steigerung der Geburtenrate, der vorzustehen ich die Ehre habe, kann eine solch eklatante Korrelation nicht ignorieren“, ereiferte sich Herr Dummerjahn, und seine Stimme überschlug sich fast, als er das Wort ‚Korrelation’ aussprach.

„Das ist doch Unsinn!“ Fast zeitgleich und mit ähnlichem Wortlaut sprangen die beiden Wissenschaftler auf.
„Aber meine Herren, der gesunde Menschenverstand kann irren. Statistiken dagegen verkündigen heilige Wahrheiten.“
Das Kopfschütteln der beiden Freunde nahm gesundheitlich bedenkliche Ausmaße an. Fassungslos schauten sie sich an.
„Haben Sie das Vorgehen denn mit Ihren werten Kollegen besprochen?“, wollte Herr von Stieglitz wissen.
„Selbstverständlich! In unserer Montagsandacht habe ich die Ergebnisse bezüglich der Störche vorgestellt, und es gab eine beeindruckende Mehrheit für die von mir vorgeschlagenen Maßnahmen. Und Ihr Institut, meine Herren von Simmlitz und Stiegdorf, hat davon profitiert.“
„Wie haben wir uns diese Andacht vorzustellen?“, wollte der bass erstaunte Herr von Stieglitz wissen.
„Meine Herren, es ist kurz vor 19 Uhr und da heute Montag ist, kann ich Sie zu einem Besuch der Andacht einladen. Sie müssen zwar im Zuschauerraum Platz nehmen, doch Sie werden sicher einen bleibenden Eindruck mitnehmen können.“

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg und gelangten nach etlichen Treppen und Gängen zu einem riesigen Raum, in dem bequeme Stühle und Sessel aufgestellt waren. Herr Dummerjahn ließ die beiden Freunde in einem kleinen, abgetrennten Nebenraum zurück und nahm selber im Plenum Platz. Nach und nach füllte sich der Saal, und Punkt 19 Uhr betrat ein in blutrote Gewänder gekleideter, weißhaariger Mann die Erhöhung im vorderen Teil des Saals.
„Guten Abend liebe Freunde der Wahrheit“, verkündete seine weithin tragende Stimme.
„Die Wahrheit über alles“, antworteten die Anwesenden wie aus einem Mund.
„Bevor wir die neuesten statistischen Ergebnisse und unsere Schlussfolgerungen daraus diskutieren, lasset uns ein Gebet zu Ehren unserer Götter sprechen.“
„Amen.“
„Heilige Signifikanz!“
„Bitte für uns!“
„Heilige Korrelation!“
„Bitte für uns!“
„Heilige Stichprobe!“
„Bitte für uns!“

So ging es eine ganze Weile weiter, und als bei den zwei Beobachtern bereits das Weiße in den verdrehten Augen zu sehen war und ein für wissenschaftlich trainierte Gehirne zerstörerisches Delirium unausweichlich schien, beendete der Hohepriester seine Litanei.
„Voller Stolz darf ich euch verkünden, dass sich heute das Orakel die Zeit genommen hat, unserer Andacht beizuwohnen. Einen kräftigen Applaus bitte!“
Ein dürres Männchen stand auf und verneigte sich unter enthusiastischem Händeklatschen nach allen Seiten.
„Wer, verdammt noch mal, ist denn das?“, wollte Johannes mit erstickter Stimme von seinem Freund wissen, doch dem hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen.
„Erkennst du ihn denn nicht?“, brachte er endlich halbwegs verständlich zustande.
„Den Gnom? Nein, der ist mir völlig unbekannt.“
„Das ist der Chefredakteur der ZEITUNG. Ich kenne ihn, weil er vor Jahren als Volontär einmal eine Reportage über Störche und ihre Beziehung zur Sexualität verbrochen hat. Seine Zitate meiner Aussagen waren hanebüchen!“

Kurze Zeit und etliche Gebete später gelang es den beiden Wissenschaftlern in letzter Minute, mit heroischer Willenskraft und Schaum vor dem Mund die rettende Tür zu erreichen. Ihre panikartige Flucht durch die Gänge und Flure des Ministeriums verlangte ihnen das Letzte ab.
Erst als sie das Tageslicht erreichten und mit unbändiger Freude die verseuchte Luft des Berliner Straßenverkehrs einatmeten, begriffen sie, wie knapp sie dem Wahnsinn entkommen waren.

Am nächsten Tag schickte Herr von Stieglitz folgendes Memorandum an seinen Freund:
„Lieber Thomas, ich habe lange gegrübelt, wie ich die Quintessenz des gestrigen Erlebnisses formulieren soll. Da bin ich über einige Sätze von Stanislaw Lem gestolpert, der wie kaum ein anderer über natürliche und künstliche Intelligenz nachgedacht hat, gestolpert. Er beschrieb in einem seiner letzten Interviews das Wesen der Intelligenz folgendermaßen: ‚Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund.’"


© by aweiawa, 2012

Version 3

Letzte Aktualisierung: 18.03.2012 - 15.47 Uhr
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