Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Wolf Awert IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Aberglaube | März 2012
Ich glaube nicht an Hexen
von Wolf Awert

„Ich mach mir Sorgen“, sagte Marianne.
„Warum?“, fragte ich etwas begriffsstutzig. „Was ist denn schon groß passiert? Max ist hingefallen. Ist doch nicht das erste Mal.“

„Ja, aber die Wunde schließt sich nicht.“

Was war schon groß passiert? Unser Max war losgerannt, gestolpert, hingefallen und hatte sich die Haut aufgeschürft. Etwas Blut und ein paar Kindertränen waren geflossen. Das war doch nichts Besonderes bei einem Vierjährigen.

„Max, komm mal her“, rief meine Frau und hob unseren Sohn auf ihren Schoß. Sie zog vorsichtig das alte Pflaster ab, pustete zweimal auf die Wunde, klebte ein neues darüber und gab unserem Sohn einen Kuss auf die Wange.
„Hast du gesehen? Die Wunde nässt noch immer.“
„Ist doch normal“, antwortete ich. „Aber sag mal, was sollte die Pusterei?“
„Was meinst du?“
Ich überlegte, wie ich es formulieren sollte, ohne dass Marianne mir an die Gurgel ging, und entschied mich für die absolut sachliche Variante.
„Du hast gepustet“, sagte ich. „Auf die Wunde.“
„Ach so. Das. Das verstehst du nicht.“

„Das verstehst du nicht“ sagte Marianne immer, wenn sie nicht weiter wusste. Wahrscheinlich hatte schon ihre Mutter auf aufgeschürfte Knie gepustet, ohne jemals darüber nachzudenken.
„Sinn macht das nicht unbedingt“, bohrte ich weiter.
„Schaden tut’s aber auch nicht.“
Mariannes Antwort kam kühl und abweisend. Ich wusste, dass ich das Thema jetzt nicht weiter strapazieren durfte.

Max’ Knie verheilte, aber vierzehn Tage später platzte es wieder auf. Er behauptete, er wäre schon wieder hingefallen, aber niemand glaubte ihm. Meine Frau wollte eine Heilerin um Rat fragen. Ich schlug vor, dass sich ein Arzt das Knie mal anschaute. Max wollte einfach nur raus und weiter spielen.

Ich setzte mich durch. Der Arzt sah sich flüchtig Max’ Knie an und verschrieb eine entzündungshemmende Salbe, die wir gewissenhaft auftrugen.

Die Wunde heilte nicht ab. Im Gegenteil, es sah aus, als hätte die Salbe alles nur verschlimmert. Der Arzt verschrieb ein Puder, das die Nässe rausnehmen sollte, und empfahl einen leichten Verband. Max wollte lieber ein Pflaster.

Wäre es nach mir gegangen, dann hätten wir gar nichts gemacht. Aber mit gesundem Menschenverstand kann man sich gegen eine besorgte Mutter nicht durchsetzen. Ich sträubte mich schon gar nicht mehr gegen die Heilerin.

„Keine gewöhnliche Heilerin.“ Marianne tat sehr bestimmt. „Max braucht jemanden Besonderes. Glücklicherweise ist Tante Hildegard mit einer der mächtigsten Hexen bekannt, die heute noch öffentlich praktizieren.“

Tante Hildegard und ihr Esoterikkreis. Also daher wehte der Wind.
„Ja, was denn nun? Heilerin oder Hexe? Außerdem gibt es keine Hexen“, protestierte ich. „Das ist allerreinster Aberglaube. Mit so einer Behauptung hat man früher mal Menschen verbrannt.“
„So“, sagte meine Frau nur. „Und was war mit der kleinen Rothaarigen, mit der du was vor unserer Ehe hattest?“
„Das ist mehr als zehn Jahre her, es war vor unserer Ehe, und du warst es, die sie als Hexe bezeichnet hat.“
Ich war entrüstet.

Letztlich standen wir zu dritt vor der großen Tür eines der wenigen Häuser aus der Gründerzeit, die von Krieg und Abrissbirne verschont geblieben waren. Türknopf und Klingel waren aus blank poliertem Messing.

Die Dame, die uns öffnete, war schon in die Jahre gekommen, ihr Rücken leicht gekrümmt wie ihre Nase. Eine Warze sah ich nicht, und auch die schwarze Katze auf der Schulter fehlte.

Die Alte führte uns in ihren Salon, der außer einem runden Wohnzimmertisch aus den fünfziger Jahren ein altes durchgesessenes Sofa und einen Elektroherd aufwies.
Der Geruch nahm mir den Atem. Eine Mischung aus Staub, Kochdünsten und allerlei Gewürzen, die ich nicht kannte. Eine scharf heraus stechende Prise von Menthol glaubte ich zu erkennen. Vielleicht war es aber auch Pfefferminze?
Schwere Samtvorhänge sperrten das Tageslicht aus. Dafür versorgten kleine Lichter die Umgebung mit einem Fleckenteppich aus Licht und Schatten. Ich schnüffelte. Etwas, das ich nicht identifizieren konnte, roch streng.
Ein warmer, weicher Druck meinem Schienenbein ließ mich erschreckt nach unten schauen. Eine schwarze Katze. Also doch. Katzenpisse. Hätte ich gleich drauf kommen können.

„Ich wohne nur noch in diesem einen Zimmer“, erklärte die Alte, als sie meinen forschenden Blick bemerkte. „Die anderen Räume dienen mir als Lager. Ich habe nicht mehr die Kraft, sie alle sauber zu halten.“

Was mochte sie dort wohl lagern, fragte ich mich. Knoblauch und Alraune, Tollkirschen oder bei Mondlicht gepflückte Teichkresse? Fledermausblut und eingetrockneten Krötenschleim?

„Setzt euch“, gebot unsere Gastgeberin.

Nur widerwillig folgte ich diesem Wunsch. Ich hätte lieber erst einmal die Fenster aufgerissen und gut durchgelüftet. Mir tränten schon die ganze Zeit die Augen. Schlecht, wenn man Scharfblick braucht.

Madame musste niesen. Drei Mal. Sie tat es über die rechte Schulter. Ein Abwehrritual? So ähnlich stand es in einem Buch, das ich einmal in der Bahnhofsbuchhandlung erstanden hatte. Aber in diesem Fall hätte sie spucken müssen, nicht niesen.

„Schön, dass ihr Mann mitgekommen ist, Frau Weingart. Ich habe schon gehört, dass er seinen eigenen Kopf hat.“

Nein, hatte ich nicht. Da musste Tante Hildegard mich verleumdet haben. Ich war Ingenieur, deshalb völlig vorurteilsfrei und glaubte nur an das, was ich sah.

„Ich habe auch etwas gehört“, entgegnete ich entsprechend pikiert. „Sie sollen eine Hexe sein. Aber dass das klar ist. Ich glaube nicht an Hexen. Ich halte so was für Humbug. Hexen waren schon im Mittelalter nicht mehr als ein Aberglaube.“

Die Reaktion auf meine Worte konnte ich nicht erkennen. Marianne und ich saßen auf dem Sofa, das unter unserem Gewicht beträchtlich in die Knie ging, und Marianne hatte außerdem noch Max auf dem Schoß. Und zwischen uns und Madam, die auf dem einzigen Stuhl in diesem Zimmer saß, befand sich ein großes, rundes Goldfischglas auf dem Tisch, in dem ein einsamer Prachtkerl seine Runden drehte. Das Licht der Lampen spiegelte sich in dem Glas, die Schwanzschläge des Fisches hielten das Wasser in träger Bewegung und die Lichtreflexe schwammen mit dem Fisch umher. Ich blinzelte.

„Wer in mir eine Hexe sehen will, kann das tun. Es ist ohne Bedeutung.“
Ihre Stimme war leise, ruhig und kam ganz tief aus dem Hals.

„Aber auch die Heilerin nehme ich Ihnen nicht ab. Was versprechen Sie denn den Leuten? Irgendetwas müssen Sie denen ja versprechen. Haben Sie denn überhaupt schon einmal jemanden geheilt?“

Mein Ton begann aggressiv zu werden.

„Der Körper heilt sich selbst. Er braucht keine Heiler.“
„Aber nicht bei unserem Max. Sein Körper heilt sich nicht.“ Das war die besorgte Stimme meiner Frau.
„Auch bei Ihrem Max. Nur dauert es jetzt etwas länger.“

Hatte ich nicht gleich gesagt, dass wir die Natur hätten wirken lassen sollen, anstatt herum zu quacksalbern?

„Was meinen Sie mit jetzt?“
Ich wollte es genau wissen.

„Manchmal steht dem Körper etwas im Weg. Eine alte Narbe, ein nicht erkannter Bruch eines Knochens, der falsch zusammengeheilt ist.“

„Bei Max nicht!“

„Manchmal ist es ein Zuviel an Fürsorge, manchmal zu wenig.“

„Wollen Sie damit sagen, dass wir Eltern schuld daran sind, dass das Knie nicht heilt?“

So langsam wurde ich ärgerlich. Von den Gerüchen hatte ich Kopfschmerzen bekommen und die Lichtflecke auf dem Goldfischglas machten mich schwindelig. Ich kniff meine Augenlider zusammen und produzierte jenen Blick, den ich immer dann benutzte, wenn jemand ein Projekt gründlich vergurkt hatte. Doch bei der alten Dame funktionierte das nicht so, wie es sollte.
Es fiel ihr gar nicht ein, den Blick zusenken. Stattdessen starrte sie zurück, und ich hatte das Gefühl, dass ihre Augen sich immer weiter öffneten. Am Ende meinte ich sogar, einer Eule gegenüberzusitzen, die auf eine Maus starrte. Und die beiden grauen Augen veränderten ihre Farbe, wurden dunkel, bis sich ihr Braun nicht mehr von dem Braun des alten Schranks im Hintergrund unterschied. Ja, ich glaubte sogar, durch das Auge hindurchschauen zu können und nur noch den Schrank zu sehen.

„Wer sind Sie?“ flüsterte ich ganz in ihrem Bann.
„Ich bin eine …“
Die Pause zog sich schier unendlich hin.
„Großmutter.“

Das Wort „Großmutter“ kannte ich. Es brachte mich wieder in die Welt zurück.

„Sie meinen eine Oma?“
„Keine Oma. Eine Großmutter.“

So wie sie das Wort „Großmutter“ aussprach, war da kein Platz für Gemütlichkeit und Butterkekse. Dieses Wort stand in einer langen Reihe von Tradition, Vergangenheit und altem Wissen, und wurde zu beiden Seiten von Ehrerbietung und Respekt begleitet. Von mir aus hätte sie ebenso gut auch Erzmagierin sagen können.
Während ich noch um meine Fassung rang, streckte sie ihre Hand nach Max aus, und der dumme Max ging zu ihr, krabbelte ihr in seiner ganzen kindlichen Naivität auf den Schoß.

„Max“, rief ich.

Ich wollte mein Kind zurück, doch dafür musste ich ihn erst einmal dieser Frau entreißen. Die Tiefe des Sofas hielt mich fest und, bevor ich mich aus dem Plüsch befreien konnte, hielt sie bereits ihre Hand über das wunde Knie und murmelte uralte, magische Worte.

Während auf der Herdplatte der vergessene Hagebuttentee vor sich hin köchelte und das Blubbern des Milchreis’ unheimliche Laute von sich gab, glaubte ich zu verstehen.
Das Gemurmel der Frau brachte mir alte, wohl vertraute Gefühle zurück. Ich fühlte die Weichheit eines Schoßes, spürte zärtliche Hände, und aus dem unverständlichen Gemurmel formten sich Worte, die wie Luftblasen aus einem Weiher den Weg an die Oberfläche fanden, wo sie schließlich zerplatzten. Mit jedem Blubb wurden sie deutlicher und erreichten schließlich jenen Grad der Klarheit, der es auch einem Vater ermöglichte, die verborgene Botschaft zu verstehen. Ich lauschte, und ich hörte:
„Heile, heile Gänschen …“


Zweite Version

Letzte Aktualisierung: 12.03.2012 - 21.03 Uhr
Dieser Text enthält 9985 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.