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Aberglaube | März 2012

Hedwigs Mutter
von Susanne Ruitenberg



„Paul, kommst du endlich? Wir müssen zu Mutter.“ Hedwig trommelte mit den Fingernägeln auf dem Flurschränkchen herum. Schlurfende Schritte näherten sich. Niemand konnte mit seiner Art zu gehen so sehr sein Missfallen ausdrücken wie ihr werter Gatte. Betont langsam stellte er die Pantoffeln in den Garderobenschrank, schlüpfte in seine Schuhe und band die Schnürsenkel mit einer Sorgfalt, als hinge sein Überleben davon ab. Seufzend richtete er sich auf. „Ich möchte einmal den Sonntagnachmittag in Ruhe daheim verbringen.“
„Fang nicht wieder davon an. Sie hat nur uns.“
„Niemand hat sie gezwungen, mit ihren Spinnereien sämtliche Freunde zu vergraulen, die sie mal hatte.“
Hedwig fuhr ihn an. „Das sind keine Spinnereien. Diese Wahrsagerin hat Vaters Tod auf den Monat genau vorausgesagt.“
Er schnaubte. „Zufall. Dass seine Leber hops war, konnte ein Blinder mit Krückstock sehen. Außerdem hatte sie bestimmt ihren zotteligen Köter dazu abgerichtet, Krankheiten zu riechen.“
„Ich bin es leid, diese Diskussion jeden Sonntag zu führen. Beweg dich.“
Auf dem Weg schwiegen sie sich an.
Mit mehr als dem nötigen Schwung fuhr er auf die Einfahrt, bremste scharf und stellte den Motor ab. „Bringen wir es hinter uns.“
„Paul! Muss ich dich daran erinnern, dass wir dereinst dieses Haus erben werden?“ Sie stieg aus dem Auto.
Er murmelte etwas vor sich hin, das klang wie: „Wird auch langsam Zeit, oder soll ich als Rentner hier einziehen?“
Hedwig legte diese Bemerkung für spätere Verwendung in ihre Mentalakte namens ‚Pauls Verfehlungen‘ ab und klingelte. Augenblicklich riss ihre Mutter die Tür auf. „Da seid ihr ja endlich. Kommt rein. Der Kaffee ist fertig.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte ins Wohnzimmer. Die Fünfundsiebzig sah man ihr nicht an. Aber beim Kaffeeausschenken wirkte sie fahrig, ihre Hände zitterten, ein paar braune Tropfen landeten auf der Sonntagstischdecke.
„Stellt euch vor, was mir heute passiert ist! Ich musste nach dem Gottesdienst kurz austreten, und wie ich in Gedanken versunken zum Küsterhaus eilte, habe ich übersehen, dass da eine riesig lange Leiter ans Pfarrhaus angelehnt stand. Hatte wohl einer der Jungs einen Ball aufs Vordach geschossen und niemand ist auf die Idee gekommen, die Leiter wegzuräumen.“
„Und, wo ist das Problem?“, knurrte Paul. „Ist sie irgendwem auf den Kopf gefallen?“
Bevor Hedwig den Mund aufmachen und ihn zurechtweisen konnte, rief Mutter entrüstet aus: „Es bringt Unglück, unter einer Leiter hindurchzugehen! Das sollte selbst so ein ignorantes Wesen wie du wissen. Als ich es bemerkte, hat mein Herz so schnell geschlagen, dass ich dachte, es springt mir aus der Brust! Prompt habe ich mir in der Toilettentür die Hand eingeklemmt.“ Sie zeigte ihren blauen Fingernagel wie eine Trophäe. „Und das war noch nicht alles! Als ich meine Hand unter den Wasserhahn hielt, sah ich einen Sprung im Spiegel, der vorher nicht da war. Über meinem Kopf braut sich ein Unheil zusammen!“ Paul unterdrückte ein Lachen und verschluckte sich. Hedwig warf ihm einen finsteren Blick zu, bevor sie sich Mutter zuwandte und sie beruhigte.
Die Mentalakte wuchs um einen weiteren Eintrag.
Als sie sich verabschiedeten, stieß Mutter einen spitzen Schrei aus und deutete auf das Mäuerchen, das den Garten umschloss.
„Was hast du?“ Hedwig umfasste ihre ausgestreckte Hand.
„Eine schwarze Katze!“
„Unsinn, da war nichts.“ Paul schloss das Auto auf. „Können wir?“
„Ich bringe dich hinein und lasse die Läden herunter.“
Als sie zum Wagen kam, lief der Motor schon. Hedwig vermied es, Paul anzusprechen während der Fahrt. Auf dem Weg zur Haustür pfiff er fröhlich vor sich hin. Auch beim Abendessen war er ausgesprochen gut gelaunt. Wenn sie Glück hatte, hielt die Laune bis zum nächsten Sonntagsbesuch.
Sie hatten kaum die Wohnung betreten, da klingelte das Telefon. Mutter. Nanu, was konnte sie vergessen haben? Hedwig kam nicht dazu, sich zu melden, da redete Mutter auf sie ein. „Jetzt beruhige dich doch.“ Sie hörte zu. „Na gut, ich komme.“
Sie zog die Schuhe wieder an. „Gib mir den Autoschlüssel, ich fahre noch mal hin.“
„Und das Abendessen?“ Er guckte wie ein Kind, dem man den Kuchen vom Teller geklaut hat.
„Du wirst es wohl schaffen, dir ein Brot zu schmieren, oder brauchst du dafür eine Bedienungsanleitung?“

Zurück in der Wohnung, fand sie ihren werten Gatten im Fernsehsessel vor, ein Brettchen mit Krümeln und eine leere Bierflasche auf dem Couchtisch. Sie knallte ihre Tasche auf den erstbesten Stuhl. „Hast du in Mutters Schlafzimmer Vaters alten Schirm aufgespannt? Sie war ganz aufgeregt. Ich musste mit Engelszungen auf sie einreden. Sie wollte hier übernachten!“
„Das fehlte mir noch. Außerdem ... spinnst du? Ich saß die ganze Zeit mit euch am Tisch!“
„Stimmt nicht, du warst zwischendrin weg.“
„Ja, auf dem Klo. Keine zwei Minuten.“
„Das reicht dicke, um ins Schlafzimmer zu huschen und den Schirm aufzuspannen.“
Er schüttelte den Kopf. „Du bist schon genauso versponnen wie deine Mutter. Warum sollte ich so etwas tun?“
„Um ihr Angst einzujagen?“
„Dazu braucht sie mich nicht, das schafft sie ganz allein.“
Hedwig beschloss, nicht nachzubohren. Hatte Mutter am Ende selbst den Schirm zum Trocknen aufgespannt und es vergessen? Das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Am nächsten Tag, Paul war schon im Büro, rief Mutter an, den Tränen nah. Zwei schwarze Katzen strichen um Haus herum.
„Verjag sie.“
„Aber wie? Sie gehen nicht weg und eine sitzt hier und starrt zum Fenster rein.“
„Brüll sie an oder schütte Wasser raus.“
Der Hörer wurde mit einem lauten „Klonk“ abgelegt. Hedwig wollte schon auflegen, da hörte sie die atemlose Stimme ihrer Mutter.
„Es hat funktioniert, sie sind weg.“
„Siehst du.“

Hedwig schaltete das Radio an und arbeitete ihre tägliche Haushaltsroutine ab. Gerade, als sie sich mit einer Zeitschrift hinsetzen wollte, klingelte erneut das Telefon.
„Die Katzen sind wieder da. Eine hat mir einen toten Vogel auf die Treppe gelegt. Einen schwarzen. Du musst sofort kommen, ich kann das nicht wegmachen!“
Resigniert legte Hedwig die Zeitschrift weg. „Das wird aber eine Weile dauern, ich muss den Bus nehmen.“
Auf der Fahrt dachte sie intensiv nach. Ob Mutter wirklich den Verstand verlor, wie Paul immer behauptete? Steigerte sie sich in etwas hinein, oder wurde sie tatsächlich von Unglücksboten verfolgt?
Beim toten Vogel auf der Treppenstufe handelte es sich um ein Amselmännchen, nicht weiter verwunderlich in der Stadt. Sein Kopf baumelte lose und die Augen blickten trüb ins Leere. Sicher war er nur gegen ein Fenster geflogen, warum sollte eine der Streunerkatzen ein Beutestück ablegen?
Nachdem sie den Kadaver beseitigt und Mutter erneut beruhigt hatte, inspizierte Hedwig den Garten. Waren hier nicht Katzenspuren im Kräuterbeet? Die Nachbarin schräg gegenüber liebte diese Viecher, aber ihre war dick, alt und orange. Sollte sie klingeln und fragen, ob die Frau herumstreunende schwarze Katzen gesehen hatte? Die musste sie für nicht ganz dicht halten.
Hedwig fuhr heim.

In den nächsten Tagen rief Mutter ständig an. Die Katzen seien wieder da gewesen. Ein toter Vogel läge auf der Wiese und sei eine halbe Stunde später verschwunden. Über dem Haus kreisten Raben. Es braue sich etwas zusammen, sie werde schon sehen.
Paul sagte nichts zu alldem. Er fuhr jeden Morgen los, wie immer, vielleicht ein wenig früher, er sagte, er habe viel zu tun.

Am Samstag klingelte das Telefon gegen elf. Hedwig, die gerade im Flur die Pflanzen goss, ließ die Kanne fallen und wunderte sich über ihre Schreckhaftigkeit.
Es war Mutters Nachbarin. Sie habe einen gellenden Schrei gehört und sei sofort herübergeeilt. Der Krankenwagen sei unterwegs.
Die nächsten Stunden erlebte Hedwig wie in Trance, als wäre sie nicht involviert, sondern eine Beobachterin von außen. Erst allmählich drang die Wahrheit durch die Mauer aus grauem Nebel, der ihren Verstand einhüllte.
Mutter war tot, die Kellertreppe heruntergestürzt, ihre leblosen Hände umklammerten noch den leeren Wäschekorb, die Samstagswäsche flatterte unschuldig auf der Leine im Garten.
Paul benahm sich ausnahmsweise sehr zuvorkommend, nahm ihr Hausarbeit ab, tröstete sie, verlor kein Wort mehr über Mutters Merkwürdigkeiten. Er blieb sogar am Montag und Dienstag daheim, um Hedwig bei diversen Formalitäten zu helfen.
Am Mittwoch fuhr er wieder ins Büro. Um sich abzulenken, räumte Hedwig die Küchenschublade aus, heftete herausgerissene Rezepte ab, fischte bei den Weinkorken die unansehnlichen heraus, sortierte Belege und Restaurantreklamen. Mit der übervollen Mülltüte fuhr sie nach unten. Als sie den Müllverschlag öffnete, rümpfte sie die Nase. Eigentlich war das Pauls Aufgabe. Sie warf den Müllsack in die Tonne und wollte gerade die Tür zum Verschlag zuwerfen, als ihr etwas ins Auge sprang.
Die Kiste, in der sie das Altpapier sammelten, war randvoll. Auf dem Stapel Zeitungen und Prospekte lagen mehrere flach zusammengedrückte Schachteln.
Bunte Schachteln.
Auf jeder prangte ein lachendes Katzengesicht.


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.03.2012 - 17.08 Uhr
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