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Aberglaube | März 2012

Das Brautkleid
von Katharina Conrad

Wenn sie die Augen schloss, fühlte es sich fast an, als wäre es aus warmem Wasser. Nein, nicht wie Wasser … Es prickelte auf ihrer Haut wie Champagner – zumindest stellte sie sich das so vor. Beate sog die wunderschöne Braut im Spiegel in sich auf. Nicht möglich, dass sie das sein sollte! Allein diese waghalsigen Absätze … Sie hörte noch die Stimme der Mutter im Ohr. Kind, du wirst dir auf der eigenen Hochzeit den Hals brechen.
Sie tastete über die feine Bordüre, die ihrem Dekolleté eine Herzform verlieh. Dieselbe Bordüre raffte die Seide unterhalb der Brust und ließ sie einem Frühlingsregen gleich über ihre schmale Taille fließen, bis der Saum einen Millimeter über dem Boden des Kinderzimmers sanft ausschwang.
Das Kleid war maßgeschneidert, und Beate liebte es mehr als den Mann, dem sie heute darin ihr Jawort geben würde.
Als sie sich sachte hin und her drehte, schwebten die Chiffonärmel wie kleine Flügel. Engelsflügel, dachte Beate. Alle werden sagen, ich sehe aus wie ein Engel.
Ein Engel, der in die Freiheit fliegt.
Ihr Blick blieb am Brautstrauß hängen, aber der war ihr vollkommen egal. Die weißen Lilien waren ein Wunsch ihres Verlobten gewesen. Beate freute sich daran, dass sogar ein gelangweiltes Schulterzucken in diesem Traum aus Seide anmutig und elegant wirkte.
Die Zimmertür flog auf, ohne jedes ankündigende – oder gar fragende – Anklopfen.
Wie immer. Doch das würde nun ein Ende haben. Nie wieder würden ihre Eltern das Recht besitzen, ungebeten in ihr Reich einzudringen. Weder darin einzudringen noch sie daran zu hindern, es zu verlassen.
Sie konnte gehen, sie war eine Braut, endlich. Bald, schon sehr bald schuldete sie ihnen keinen Gehorsam mehr.
„Ja, Mutter“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen, auf die völlig überflüssige Frage, ob sie bereit wäre. Natürlich war sie bereit.


„Kann man das länger machen?“, fragte Milena. „Ich bin ein bisschen größer als du, es wird zu kurz sein.“
„Wart es ab. Damals trug man die Kleider bodenlang, und ich hatte sehr hohe Absätze. Vielleicht müssen wir es eher in der Taille auslassen?“
Beate deutete lächelnd auf den leicht gewölbten Bauch ihrer Tochter.
„Sehr witzig, Mama. Dieses Kleid hat keine Taille, das ist ja das Gute daran. Wenn ich Glück habe, sieht man nachher auf den Fotos meine Kugel nicht.“
„Wie sprichst du denn von meinem Enkelkind? Meine Kugel, das hört sich an wie so ein Ding, das Sträflinge am Bein haben.“
Milena lachte und streckte die Arme nach oben, damit ihre Mutter das Kleid über sie stülpen konnte.
„Ganz so schlimm wird es hoffentlich nicht werden. Oder waren wir das für dich, als Kinder? Ein Klotz am Bein?“
Weil Milena noch auf halbem Wege im Kleid steckte, entging ihr Beates Gesichtsausdruck. Vielleicht war es besser so …
„Nein, mein Schatz“, sagte Beate. „Wie kommst du denn auf so etwas?“
Ihre Tochter tauchte aus der Seide auf und drehte sich zum Spiegel. Sie strich über die sanften Wellen, die an ihrem Körper hinabglitten wie flüssiges Porzellan.
„Na so was!“ flüsterte Milena andächtig. „Das sitzt tatsächlich wie angegossen!“
„Na ja, fast.“ Beate zupfte vorn am Ausschnitt und hinten am Reißverschluss.
„Ein bisschen auslassen muss man es schon, in deinem Zustand sind die Dimensionen obenrum einfach andere. Aber es steht dir ganz wunderbar.“
Milena drehte sich zu ihrer Mutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Danke, dass ich dein Brautkleid tragen darf. Es bedeutet mir so viel, und – du weißt ja, der Umzug, die ganzen Anschaffungen, die Kindersachen ... Ein neues Brautkleid könnten wir uns nie im Leben leisten.“
„Schon gut, mein Herz, ich weiß. Aber es ist doch gar nicht wichtig, ob das Kleid neu ist, oder?“
Milena kaute auf ihrer Oberlippe. Beate erinnerte sich, dass sie das schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie etwas Schwieriges formulieren wollte.
„Gebrauchte Kleider bringen eigentlich Unglück, sagt Maja. Fremde zumindest. Aber das hier ist etwas anderes, eher ein Familienerbstück. Du weißt schon, etwas Altes, etwas Neues und so weiter... Dieses Kleid ist das Alte.“
„Ich wusste nicht, dass du abergläubisch bist.“
„Ich auch nicht“, gestand Milena. „Das sind die Hormone.“
Kurz nach der Hochzeit zog Milena mit ihrem Mann in ein kleines Häuschen, das die beiden renovieren wollten. Viele Dinge, die nicht täglich gebraucht wurden, blieben in den Umzugskisten, wo sie vor Wandfarbe und Baustellendreck in Sicherheit waren. Auch das Brautkleid.
Als Beates Enkelkind zur Welt kam, gerieten die Sachen in den Kisten zunächst in den Hintergrund und schließlich in Vergessenheit, bis irgendwann keiner mehr wusste, was eigentlich darin war. Als Milenas zweites Kind unterwegs war und der Platz knapp wurde, beschloss ihr Ehemann, sich ohne viel Aufhebens von den Kisten zu trennen, die seit dem Einzug keinen interessiert hatten und kaum etwas enthalten würden, worauf man nicht auch verzichten konnte. Ohne Milena zu behelligen oder hineinzuschauen, stellte er die Kisten zur Sperrmüllabfuhr an den Straßenrand.
Weit nach Mitternacht durchwühlten Halbstarke die Kartons, auf der Suche nach Brauchbarem – was ein dehnbarer Begriff war, wie die Mutter einer Fünfzehnjährigen am nächsten Tag feststellte.
Sie staunte nicht schlecht, als sie unter dem Bett ihrer Tochter einen Zipfel feinster weißer Seide hervorschimmern sah, und weil die Mutter – genau wie die Tochter – keinen Sinn darin sah, das Kleid den ursprünglichen Eigentümern zurückzubringen, trug sie es in den Secondhandladen zwei Straßen weiter, in dem sie sich und ihre Familie auszustatten pflegte. Die Besitzerin bezahlte sie mit einem Einkaufsgutschein, und für die nächsten langen Monate hing das Brautkleid auf einem Plastikbügel zwischen einer speckigen Lederjacke und einem Skioverall.


Der schneeweiße Stoff umfloss den stillen Körper wie reines, klares Wasser.
Wie durch ein Wunder hatte das Kleid Susanna auf Anhieb gepasst, gerade, als wäre es für sie gemacht. Welch unfassbares Glück! Dabei war sie eigentlich nur zufällig in dem Secondhandladen gewesen, um für eine Freundin Kleider abzugeben. Dann hatte sie das Kleid zwischen all dem alten Zeug hängen sehen und sofort gewusst, das war ihres, dieses und kein anderes. Sie hatte es anprobiert und vom Fleck weg gekauft, obwohl sie noch nicht mal einen Antrag bekommen hatte. Später, zu Hause, als sie das Kleid stolz und glücklich ihrem Freund vorgeführt hatte, da war er vor ihr auf die Knie gefallen, ganz spontan. Zugegeben, ganz so hatte sie sich den Moment nicht vorgestellt, aber was spielte es schon für eine Rolle? Er hatte sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle, sie hatte geweint und natürlich „Ja“ gesagt, und dann hatten sie eine Flasche Sekt aufgemacht und all ihre Freunde angerufen.
Die Hochzeit war als bescheidenes, aber fröhliches Fest geplant gewesen. Witzige Spiele waren vorbereitet worden, und während ihr Zukünftiger und seine Freunde noch mit den Nachwirkungen des Junggesellenabschieds zu kämpfen hatten, ließ sich Susanna von ihren Freundinnen schminken und frisieren. Sie wollten sich am Kirchenportal treffen, kurz bevor die Glocken zur Messe läuteten.

Der Fahrer des Lkws wusste nichts von der bevorstehenden Hochzeit. Er wusste nichts von dem Glück, das zwei junge Menschen besiegeln wollten, die nichts vom Leben geschenkt bekommen hatten, nichts außer ihrer Liebe.
Erst, als er sich nach dem Deckel seines Flachmanns bückte, als er spürte, dass er irgendwas oder irgendwen mit Wucht gerammt hatte, erst in diesem Augenblick kam ihm der Gedanke, dass der Deckel, der ganze verdammte Flachmann auch noch hätte warten können.

Die weiche Seide schmiegte sich sanft an ihre kühle Haut. Ruhig lag die feine gestickte Bordüre auf dem blassen, makellosen Dekolleté. Unter den gefalteten Händen fiel der Stoff sanft zu den Seiten, floss über die samtene Verkleidung.
Auf der Erde kniete weinend ein junger Mann, der einmal ein Bräutigam gewesen war.
Nichts war ihm geblieben. Nichts, außer den Lkw-Fahrer zu verfluchen und den Tag, an dem sein Mädchen auf dieses gottverdammte Brautkleid gestoßen war.

©K.Conrad Version3

Letzte Aktualisierung: 25.03.2012 - 16.48 Uhr
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