Ganz schön bissig ...
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Der Psychopath | April 2012
Ein hoffnungsvoller Neuanfang
von Nicole Heetzsch

Michael zwinkert Silke zu und nimmt ihr den Umzugskarton ab. „Liebling, du sollst doch nicht schwer tragen. Das ist Männersache.“
Sie schaut kurz zur Seite und sieht mehrere Frauen herüberglotzen. Schnell senkt sie den Blick und folgt ihrem Ehemann ins Haus. Er setzt die Kiste im Flur ab. Vielleicht wird diesmal alles besser? Silke möchte es diesmal auf jeden Fall richtig machen.
Er fasst ihr sanft ans Kinn. Sein Lächeln und die hochgezogenen Brauen nehmen ihr den Atem.
„Bitte vermassel es nicht wieder, Liebling! Draußen stehen nette Frauen mit ihren Männern. Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben. Sie sind neugierig. Hier im Sauerland sind sie so.“
Silke nickt. Natürlich kann sie nachvollziehen, dass die Nachbarn wissen möchten, wer die Villa gekauft hat. Sie ist ein Prachtstück, nicht nur der Traum jeder Frau. Sie sticht in dieser Siedlung zwischen allen Häusern mit ihrem reichhaltigen Stuck hervor. Silke weiß aber auch, dass jede Frau nach Michael lechzt. Nicht allein, weil er ein sehr erfolgreicher Architekt ist. Seine sportliche Figur, das adrett gestylte Haar und die markanten in sich weich verlaufenden Gesichtszüge regen fast alle Frauen in ihrer Phantasie an. Sicher wird jede seine Zärtlichkeiten kennenlernen dürfen.
„Silke? Hörst du? Ich möchte hier gerne eine Weile bleiben. Jetzt spiel bitte nicht das scheue Reh! Sei freundlich zu ihnen und grüße. Ich möchte nicht, dass unsere Nachbarn wegen deines unangebrachten Benehmens schlecht über uns denken!“
Silke versucht, den dicken Kloß im Hals herunterzuschlucken, um ihre Stimme zu kontrollieren. Es entweicht ihr jedoch nur ein leises „‘türlich“, worüber sie sich gleich ärgert.
„So ist‘s brav. Ich hole jetzt die restlichen Kartons herein. Du weißt ja, wo was hingehört!?“
„Ja, Schatz“, antwortet sie mit zittrigen Knien.

Bei den letzten Umzügen dachte sie auch, sie wüsste, wo alles seinen Platz hat. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er in jedem Haus eine andere Ordnung anwendete und sie sich stets verkalkulierte. Zehn Umzüge waren es bisher. Jeden davon hatte er für notwendig gehalten. Alle mussten ihretwegen geschehen. Weil sie sich nicht unter Kontrolle hatte. Sie war schwach, zu schwach. Sobald die Nachbarn ihr sonderbares Verhalten bemerkten, sah Michael den Ruf der Familie in Gefahr. Immerhin wollte er mit Silke eine gründen. Wie würde ihr Kind in einer Nachbarschaft aufwachsen, in der die Mutter als psychisch krank galt? Das konnte er nicht zulassen. Mit der Zeit ist Silke stärker geworden. Im Gegensatz zu früher weint sie nicht so schnell, wenn er sie auf ihre Fehler aufmerksam macht. Deswegen muss er sie auch nicht mehr so häufig prügeln.

Ihre Beine vibrieren immer noch. „Reiß dich zusammen“, zischt sie sich zu. Im Badezimmerspiegel blickt ihr eine Frau mit tiefen Augenringen entgegen. Wie kann man sich nur so gehen lassen? Sie lässt das Wasser laufen, wäscht ihr Gesicht vom Angstschweiß frei und klopft sich die Wangen rot. Ein prüfender Blick stellt sie zufriedener. Gerne würde sie sich pudern um wieder anmutiger auszusehen. Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie den Gedanken abschütteln. Michael mag an ihr keine Schminke. Sie ist keine der anderen Frauen, sondern von ihrer Natur her etwas Besonderes. Michael hatte ihr beim letzten Mal das Make-Up mit Wachsstreifen von den Wangen gezogen und betont, dies solle ihr eine Lehre sein, damit sie es sich merkt. Es hat funktioniert. Sie vergisst es nicht mehr.

Zuerst nimmt sie sich die Küche vor. Hier kann sie nicht viel falsch machen. Die Weingläser möchte er sicher poliert in der Vitrine sehen, das Besteck wird in der Schublade immer im gleichen System angeordnet. Die Teller gehören in den Hängeschrank neben dem Herd. Erst die tiefen, daneben die flachen und dann die Kuchenteller. „Kein Problem“, versucht sie sich zu beruhigen. „Du schaffst das!“
„Führst du wieder Selbstgespräche, Liebling?“ Michael steht hinter ihr. „Du weißt, dass du das ablegen musst.“ Er starrt auf das Poliertuch in ihrer Hand. Seine Halsadern schwellen an. Überfreundlich grinsend greift er zum Tuch und hält ihr ein Glas so nah vor die Augen, dass sie nur noch einen verschwommenen Schleier wahrnimmt. Silke atmet tief ein und aus. Nicht heulen. Es gibt keinen Grund dafür. Mach ihn nicht sauer, er will dir nur etwas zeigen.
Er beobachtet sie und drückt ihr das Glas fest gegen das Nasenbein.
„Du siehst doch, dass das Poliertuch ersetzt werden muss!? Schau, die kleinen Flusen! Müssen wir dir die Augen korrigieren?“
„Ich … ich wollte gerade beginnen. Es ist noch nicht geputzt.“
„Dann nimm keinen gebrauchten Stoff. Du darfst auch etwas schneller im Auspacken sein. Meinst du, du bist bis heute Abend fertig? Ich hätte es gerne in unserer ersten Nacht hier romantisch.“
Silke nickt.
„Gut. Die Kartons sind alle drin. Ich begrüße die neuen Nachbarn.“
Zu ihrer Erleichterung verlässt er die Küche. Silke kramt blitzschnell die neuen Tücher heraus und macht sich an die Arbeit.

Gegen zweiundzwanzig Uhr ist sie fertig. Michael ist noch nicht zurückgekehrt. Müdigkeit überkommt sie, jedes einzelne Körperteil schmerzt. Hat sie an alles gedacht? Die Kisten sind ausgepackt, es dürfte kein Staub zu finden sein. Die Teppiche sind gesaugt, die Fenster sind geputzt, die Vorhänge und Gardinen hängen und sind in symmetrischen Falten angebracht. Seine Bücher und CDs sind im Regal alphabetisch sortiert. Gedanklich geht sie durch jedes Zimmer. Es scheint alles erledigt zu sein. Sie auch. Gerne würde sie jetzt ins Wasserbett sinken, ihren Kopf ins weiche Kissen kuscheln und sich von der Decke wärmen lassen. Doch sie weiß, wie wütend es Michael macht, wenn sie nicht gemeinsam ins Bett gehen. Sie setzt sich auf die Couch, darauf bedacht, keines der Kissen zu berühren, damit diese nicht knittern, denn noch mal möchte sie nicht bügeln. Sie prüft, ob ihr Haarband richtig befestigt ist. Michael hasst es, wenn sie Haare verliert.
Endlich durchatmen. Sie sieht zum Fenster hinaus und betrachtet den Baum. Er ist genauso wunderschön wie der vor ihrem Elternhaus. Sie spürt die Spannungen von sich abfallen. Ihre Mutter ist näher als in jedem vorherigen Wohnort. Nur dreißig Kilometer. Sie fehlt ihr. Ein Besuch wäre trotzdem dumm. Silke weiß, dass Michael meint, ihre Mutter habe einen schlechten Einfluss auf sie. Das Verlangen, ihr wenigstens zu schreiben, nistet sich in ihrem Kopf ein. Sie holt Toilettenpapier und einen Kugelschreiber. Papier kann sie nicht nehmen. Michael würde sofort sehen, dass Blätter fehlen und misstrauisch werden. Er wiegt sie genau ab. Aus dem Tonkarton der Putztücher könnte sie einen Umschlag basteln.
Sie beginnt zu schreiben.

Liebe Mama,

es tut mir schrecklich leid, dass ich dich bisher in all den Jahren noch nicht besuchen konnte. Ich vermisse dich schrecklich.
Mir geht es gut. Michael und ich machen einen Neuanfang. Ich weiß, du hast nie viel von ihm gehalten und ihn immer als Psychopathen betitelt. Doch glaube mir: Das war und ist er nicht. Er ist ein liebenswürdiger,sensibler Mensch, der genau wie du nur mein Bestes will.
Du hast ihn damals verurteilt, weil er mich so häufig geschlagen hat. Vertraue mir, Mama: Er hatte immer guten Grund dazu. Ich gebe zu, die Scherbe an meinem Hals hat mir damals schon große Angst gemacht. Aber es war auch eine extreme Situation. Immerhin hatte ich durch mein ungeschicktes Verhalten die wertvollen Porzellanteller ruiniert. Wäre ich nicht so ungeschickt gewesen, hätte er sich daran nicht schneiden können. Er wollte mir nur zeigen, wie scharf sie sind.

Ich weiß, dass du seine Methoden, mich zur Disziplin zu bringen, verurteilt hast. Zugegeben, ich wollte mich auch von ihm trennen. Wir wissen aber alle, wie zwecklos es wäre. Wir gehören zusammen und eine Flucht ist nicht möglich. Das Schicksal würde uns immer wieder zusammenführen. Er würde mich überall finden.

Du hast damals behauptet, ich ginge durch die Heirat freiwillig in ein Gefängnis. Nach den ersten Monaten hatte ich dir geglaubt. Mittlerweile weiß ich, dass dieser Gedanke Unsinn ist. Michael ist ein guter Lehrer und hat mich aus meinen eigenen Fesseln befreit. Er weiß, was richtig ist, und hat mir immer geholfen, meinen Weg für mich zu finden. Ich war eine gefühlsduselige, unglückliche Kuh, die nicht mit Kritik umgehen konnte.
Michael schlägt mich nicht mehr. Das zeigt, wie gut ich mich entwickelt habe. Gut, ich habe sicher ein paar kleine Fehler, aber die bekomme ich noch reguliert.

Wir haben eine wunderschöne Villa in einer gut situierten Gegend. Michael ist so erfolgreich, dass wir uns fast alles leisten können. Ich arbeite schon lange nicht mehr und kümmere mich um den Haushalt. Es ist für mich eine Erleichterung, dass ich mich nicht mehr mobben lassen muss.

Bald wirst du sicher auch Oma. Ist das nicht wunderbar?! …


Ein Klicken im Türschloss.
Silke steckt eilig den Kugelschreiber in den Stifthalter zurück und rennt zur Toilette. Als Michael das Wohnzimmer mit prüfendem Blick betritt, ertönt die Klospülung.

V3

Letzte Aktualisierung: 24.04.2012 - 08.37 Uhr
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