Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Der Psychopath | April 2012
Die Rattenplage
von Karin Hübener

Oh nein! Nicht schon wieder eine tote Ratte!
Genervt hob er den Blick von dem Kadaver zu seinen Füßen und schaute zum Spion in der gegenüberliegenden Wohnungstür. Wahrscheinlich schielte der Doofmann gerade hindurch und feixte sich eins. Aber diesmal gönnte er dem Kerl den Entsetzensschrei nicht. Vielmehr zog er sich mit verächtlichem Schweigen in die eigene Wohnung zurück.
Dort lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Garderobenwand, schloss die Augen und atmete tief durch.
Ruhig! Ganz ruhig.
Wie sollte er jetzt vorgehen, um sich von diesem Verrückten nicht weiter terrorisieren zu lassen? Er wollte nicht, dass die Sache unnötig eskalierte. Doch so weitergehen konnte es ja auch nicht. Am besten das Viech erst einmal hereinholen.
Vorsichtig schob er es vom Kehrblech auf eine dicke Lage Zeitungspapier mitten auf den Küchentisch. Bei anderem Wetter wäre er damit lieber auf den Balkon gegangen. Heute war es dafür jedoch zu kalt.
Wenn Gerda noch lebte, hätte er mit dem Tier in den Keller gemusst. Prächtige Frau! Immer fleißig, sauber, ordentlich und korrekt. Schade drum. Allerdings hatte die neue Freiheit manchmal auch ihr Gutes. So wie jetzt.
Am ekligsten fand er seit jeher den langen, kahlen Schwanz. Warum, wusste er selber nicht. Die spitzen Zähne in dem halb geöffneten, blutigen Maul waren schließlich auch nicht ohne. Und dann die Augen. Runde Knopfaugen, schon leicht angetrocknet mit einer kleinen Delle in der Mitte. Die Leichenstarre war bereits vorüber. Na, wenigstens stank das Tier noch nicht.
Normalerweise trank er um diese Zeit seinen Earl Grey. Doch heute gönnte er sich einen Cognac.

Was bewog einen jungen, studierenden Mann dazu, seinen alten Nachbarn in dieser Weise zu drangsalieren? Was hatte er ihm getan? Wollte der seine Macht demonstrieren oder ihn für seine kleine Freundin aus der Wohnung graulen? Die Miete war ja recht günstig. Vielleicht sollte das nur ein Witz sein? Dumme Jungenstreiche eines Spätpubertierenden?
Zur Polizei gehen wollte er damit nicht. Schließlich konnte er dem Prollo nichts nachweisen. Da würde er sich nur lächerlich machen. Zwar hatte alles vor vier Wochen nach dessen Einzug begonnen, aber das reichte noch nicht für eine Anzeige.
Sollte er ihm die Ratte zurück vor die eigene Tür legen? Dazu einen Zettel mit dem Hinweis 'Annahme verweigert'? Bloß nicht! Wer wusste, wo das Tier dann als nächstes landete.
Die ersten drei Kadaver hatte er einfach in die grüne Tonne entsorgt. Dabei hatte er noch die Hoffnung gehegt, dass diese Art von Streich sich bald von alleine totlaufen würde. Aber der junge Mann war anscheinend nicht ganz dicht. Wie konnte so jemand Biologie studieren?
Und überhaupt: Wo mochte der die Viecher rekrutieren? Ob sie in Anatomie gerade Ratten sezierten? Oder hatte das Ordnungsamt in dem Gebüsch hinter den Müllcontainern wieder mal Giftköder gelegt?
Mit einem alten Kochlöffel stocherte er an dem Tier herum. Der Kopf war auffallend beweglich. Kein Zweifel, jemand hatte der Ratte das Genick gebrochen.
Vielleicht nahm ihm der neue Mieter die Geschichte mit dem Katzenklo übel? Schon möglich, dass er so kleinlich war. Doch das Zeugs schüttete man nun wirklich nicht einfach so in die Tonne. Er hätte die Spreu vorher wenigstens in Zeitungspapier einwickeln können! Das hatte der Herr Studiosus natürlich nicht nötig. So war der ganze Mist schön gleichmäßig verteilt über all dem restlichen Abfall gelandet. Unmöglich! Ein Biologe, der nichts von Hygiene verstand.
Als erfahrener Hausmann hatte er dem Schnösel ein Exempel statuieren müssen. Was denn sonst? Einfach war es allerdings nicht gewesen, einen Teil der Schiete wieder herauszuschaufeln. Zwei Rückenwirbel taten ihm heute noch weh. Nun ja. Die Tüte war trotzdem voll geworden. Er hatte sie samt alter Zeitung dem jungen Mann an die Wohnungstüre gehängt. Seitdem herrschte wieder Ordnung im Müllsystem.
Dafür ging das aber kurz danach mit den Ratten los.
Hätte er die Vormieterin eventuell großmütiger behandeln sollen? Gegen den jungen Chaoten war sie noch Gold gewesen. Nach ihrer Nachtschicht im Altenheim hatte sie ihm morgens seine Zeitung hinter den Türknauf geklemmt. Dabei hätte sie das Ding besser draußen in der Zeitungsrolle lassen sollen. Denn oft war der Hellweger eingerissen oder zerknittert gewesen. Manchmal hatte sie ihn auch vorher gelesen. Da war er sich sicher. Trotzdem eine nette Geste.
Bei ihren Schuhen musste er jedoch ein Machtwort sprechen. Man konnte solche qualmenden Quanten nicht einfach im Hausflur vor der Türe stehen lassen! Eine Zumutung für die Mitbewohner! Als höfliche Bitten nichts genutzt hatten, war er auf die Idee mit der Niveacreme gekommen. Darüber amüsierte er sich jetzt noch. Es musste ein irres Gefühl für sie gewesen sein, so ahnungslos in die kühle Matsche zu steigen.

Das Summen einer Aasfliege holte ihn aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück.
Zielsicher landete das Insekt zwischen zwei Zähnen im blutigen Rattenmaul. Ekelhaft. Zum Glück war er im Fliegenfangen schon immer gut gewesen. Man musste sich dabei nur vorsichtig mit der hohlen Hand von hinten anpirschen. Fliegen schauten ja nach vorne und zur Seite. Und dann zack! Blitzschnell zupacken. Na also. Klappte doch prima.
Nach dem Händewaschen genehmigte er sich einen zweiten Schluck. Desinfektion für Seele und Atemwege. Grinste ihn das Vieh auf dem Tisch jetzt höhnisch an? Na warte!
Wüste Ideen schwirrten ihm durch den Kopf: Die Ratte als Post im nachbarlichen Briefkasten, als Pfropf im Auspuffrohr, als Wurfgeschoss auf dem Balkon, als Trophäe aufgenagelt an die Kellertür, im Waschraum in den Wäschekorb geschmuggelt, dem Bioprofessor als Liebespost mit Absender geschickt – oder gleich dem Hauswirt?
Lustig wäre es, dem nachbarlichen Haustier die Ratte an den Schwanz zu binden. Zutraulich genug war es ja. Mann, würde das Herrchen blöde gucken!
Nein, das gehörte sich natürlich alles nicht. Aber man würde ja wohl noch träumen dürfen.

Gestern hätte er ihn beinahe erwischt. Da hatte der Katzenhalter doch tatsächlich mit einer Plastiktüte vor seiner Türe gehockt. Sie hatten sich beide ordentlich erschrocken.
Bevor er zum Briefkasten ging, schaute er zuerst immer durch den Spion. Da war aber nichts zu sehen gewesen. Klar, wenn der so tief auf der Matte gesessen hatte!
Angeblich war ihm sein Schnürband aufgegangen. Ha! Welch erbärmliche Ausrede. Dabei hatte er genau erkennen können, dass sich etwas Dunkles in Rattengröße durch die weiße Plastikfolie abzeichnete. Ach, hätte er die Wohnungstüre doch nur ein paar Sekunden später geöffnet!
Ob er mal mit den anderen im Hause über den neuen Mieter sprechen sollte? Vielleicht war denen auch was aufgefallen? Oder den Nachbarn in der Straße?
Lieber nicht. Die hielten ihn eh schon alle für einen Eigenbrötler. Da musste man ja nicht noch Öl ins Feuer gießen.

Der Cognac wärmte ihm den Bauch und verfeinerte seinen Geruchssinn. Pfui Teufel, der Kadaver begann zu müffeln. Hatte er vorhin schon so gerochen oder lag das an der Wärme der Küche? Jedenfalls musste jetzt etwas geschehen.
Als er sich erhob, hörte er draußen ein Auto vorfahren. Das klang nach dem Corsa der kleinen Freundin. Er schielte durch die Küchengardine. Tatsächlich! Das war Madamchen Brillenschlange mit ihrem Dauerglimmstängel. Und sie ließ wie immer das Seitenfenster einen Spalt breit geöffnet.
Da wusste er, was zu tun war.

Drei Wochen später zog der Plagegeist endlich aus. Durch konsequente Pädagogik erreichte man bei der Jugend auch heutzutage noch jedes Ziel.
Leid tat es ihm nur um den schönen Kater. Mit dem Prachtstück hatte er sich nämlich angefreundet. Kein Wunder, dass Oskar in ihm sein Ersatzherrchen sah. Der eigentliche Halter war schließlich durchgeknallt und verbrachte viel zu viel Zeit an der Uni. Das Futter hatte der Kater schnell gewittert. Für so ein kräftiges Tier war es kein Problem gewesen, mal eben vom Hof auf den Balkon ins Hochparterre zu springen.
Einmal hätte er den neuen Freund beinahe geopfert. Damals, nach der zweiten Ratte. Völlig unbedarft hatte der Kater neben dem toten Nager gehockt. Mit einem freundlichen Maunzen war er dann durch den Türspalt zu ihm in die Wohnung gehuscht.
In diesem Moment hatte er kurz mit einem finsteren Gedanken gespielt. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, dem Irren sein Haustier tot auf der Fußmatte zu servieren. Doch welcher Tierfreund brachte so etwas fertig? Dazu benögtigte man schon das Niveau dieses Biofritzen.

Ein richtiger Streuner war Oskar, ein Kampfkater, wie es sich für ein gesundes Männchen gehörte. Sein rechtes Ohr war zerfetzt von so manchem Gefecht. Aber von ihm, dem Seelenverwandten, hatte das Tier sich dahinter kraulen lassen. Und geschnurrt hatte es auch immer so nett. Schade, jetzt war Oskar fort mitsamt dem Rattenfetischisten. Nun ja, man konnte nicht alles haben.

Letzte Aktualisierung: 26.04.2012 - 23.50 Uhr
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