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Der Psychopath | April 2012

Alles gelogen
von Sonja B.-Hoffmann

Das Eisentor fällt hinter ihm ins Schloss. Er atmet durch. Endlich frei.
Die Kälte schneidet ihm ins Gesicht. Er zieht aus seiner Reisetasche einen Schal. Eine abgegriffene Schachtel fällt heraus. Er öffnet sie, betrachtet das Foto von Melli. Sie drückt ihren Kopf an seine Schulter und lacht in die Kamera. Hinter ihr steht seine Schwester Caroline mit ernstem Gesicht. In der Schachtel liegt noch ein Stück Seife. Er nimmt es in die Hand. Die Seife ist unbenutzt und riecht nach Rosen. Der gleiche Duft, den Melli so gerne mag.

Die Welt hat sich verändert. Sie ist lauter und bunter geworden. An der Ecke, an der früher der Stadtbus hielt, befindet sich ein Zugang zur U-Bahn. In der Wohnung von Melli trifft er auf einen Perser. Der Mann sagt ihm fünfmal freundlich, dass er mit seiner Familie schon seit acht Jahren in dieser Wohnung lebt und keine Melanie Benjac kennt, auch nicht weiß, wohin die Vormieter gezogen sind. Dann schließt der Perser die Tür und öffnet ihm nicht mehr.

Er sucht eine Telefonzelle und findet keine. Ein junger Mann mit dicker Lederjacke und braunem Schal hat Mitleid, fragt ihn nach der gewünschten Nummer und wählt sie auf seinem Handy.
Die Telefonnummer seiner Schwester stimmt nicht mehr.
Der junge Mann versucht, über die Auskunft mehr zu erfahren. Es ist kein Eintrag für München vorhanden. Vielleicht wohnt sie nicht mehr hier oder hat geheiratet und einen anderen Namen.

Er denkt an Leo, Carolines Sohn. Er muss mittlerweile achtzehn sein. Er stellt sich seinen Neffen groß gewachsen und muskulös vor. Damals lag Leo im Kinderwagen, als es klingelte. Die Polizisten stürmten in Carolines Wohnung. Sie drehten seine Hände auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Caroline ergriff Leo und drückte ihn an ihre Brust. Leo weinte. Er bat darum, Leo noch einen Kuss geben zu dürfen. Sie erlaubten es nicht. Nun ist sein Neffe groß geworden – ohne ihn.
Ob Leo seine Geschichte kennt?

Caroline saß damals im Zuschauerraum und starrte zu ihm, fünf Verhandlungstage lang. Die ganze Zeit.
Er schaute sie nicht an, doch er wusste trotzdem, dass sie ihn beobachtete. Sie wollte seine Reaktionen sehen, als die Anklage verlesen wurde, als die Lichtbilder über einen Laptop an die Wand geworfen wurden, als der Arzt die Verletzungen erläuterte, als der Psychiater über seine Kindheit, sein Sexualleben, das Ergebnis des testpsychologischen Gutachtens und seiner Untersuchungen sprach.
Dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Verminderte Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt.
Das war nicht er. Sie redeten von einem anderen, von einem Monster.

Melli sagte aus. Er durfte es nicht hören. Er wurde in die Haftzelle gebracht, während Melli dem Gericht von ihrer Beziehung erzählte. Sein Anwalt erklärte ihm, dass Melli Angst habe, vor ihm zu sprechen. Er versprach ihm, dass er als sein Verteidiger genau zuhören und Fragen stellen würde. Später würde das Gericht ihm genau mitteilen, was Melli ausgesagt habe.

Er konnte es nicht verstehen. Melli log.
All diese Verletzungen. Gelogen.
Der wochenlange Krankenhausaufenthalt. Gelogen.
Die Vergewaltigungen. Gelogen.
Die Tritte in ihren schwangeren Bauch. Gelogen.
Seine Schuld am Abgang des Kindes. Gelogen.

Gelogen. Gelogen. Gelogen.

Seine Schwester hätte es aufklären können, hätte sagen können, dass er ein guter Sohn und Bruder gewesen ist und ein guter Ehemann. Doch sie hat von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Einfach so.
Dabei weiß sie, dass der Tod ihrer Eltern ein Unfall war. Selbst die Polizei zog dies damals nie in Zweifel. Ihn traf keine Schuld, auch wenn der Psychiater dies in der Verhandlung in Zweifel zog.
Nach dem Tod der Eltern kümmerte er sich um seine kleine Schwester. Liebevoll. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr lebte sie bei ihm, dem großen Bruder, der schon Geld verdiente, solange bis das Jugendamt sie holte.
Natürlich musste sie bei ihm den Haushalt machen. Putzen, Waschen, Kochen ist Frauenarbeit. Er brachte schließlich das Geld nach Hause.
Doch Caroline war faul. Sie wusste, dass er um fünf nach Hause kam und pünktlich sein Essen auf dem Tisch haben wollte. Dazu ein eiskaltes Bier. Den Kasten Bier konnte sie beim Getränkemarkt an der Ecke kaufen, Fleisch und Pommes gab es im Supermarkt. Seine Schwester kümmerte sich nicht. Sie versteckte sich hinterm Sofa, wenn er kam, oder sperrte sich im Klo ein. Angeblich hatte er ihr kein Geld gegeben.
Caroline kann gut lügen und belog dann auch das Jugendamt. Dabei ist sie nur, wie so oft, die Treppe hinuntergestürzt. Sie war einfach schusselig.

Melli war auch schusselig. Er hat sich oft gefragt, ob Frauen überhaupt ein Gehirn haben.
Siewar nicht in der Lage, sein Hemd knitterfrei zu bügeln, geschweige denn, schmackhaft zu kochen. Meist schmeckte das Essen fad, und wenn er nach Salz fragte, hatte sie nichts Besseres zu tun, als ihn über seine Gesundheit aufzuklären.
Im Grunde war sie nur für das Bett gut und dafür musste er sie stundenlang bitten. Sie zierte sich und dann lag sie da wie totes Fleisch, kein Mucks, ob es ihr Spaß machte.
Oft heulte sie hinterher, angeblich weil er ihr wehgetan hatte. Das nervte.
Er zeigte ihr Pornos. So konnte sie sehen, dass richtige Frauen harten Sex mochten, sich sogar auspeitschen ließen. Er peitschte sie nie aus. Das war nicht seine Art.
Wenn er fragte, ob er sie jemals zu Unrecht geschlagen habe, verneinte sie immer. Sie betonte sogar, dass er mit ihr viel Geduld habe, dass sie ihn nicht verdienen würde und er ein guter Ehemann sei. Ein guter Ehemann.
Auch als sie schwanger war, hatte sie nie wirklich vorgehabt, ihn zu verlassen. Siewar freiwillig zurückgekehrt.

Melli bereut ihre Lügen. Sie bedauert es immer, wenn sie etwas falsch gemacht hat. Sicher wartet sie darauf, dass er sie sucht, damit sie zu ihm zurückkehren kann. Er muss sie finden.

Er fragt den Mann in der Lederjacke, ob er noch nach der Adresse einer Melanie Benjac forschen könne. Er hat Glück. Melli lebt in einem Pflegeheim in München.
Er erklärt dem jungen Mann, dass Melli vor Jahren einen schweren Unfall gehabt hat und dass sie sich riesig freuen wird, ihn wiederzusehen. Er strahlt bei diesem Gedanken.
Der junge Mann beschreibt ihm den Weg zum Pflegeheim und welche U-Bahn er nehmen muss.
Es ist nicht weit. Einmal muss er umsteigen, dann ist er da.

Sie sitzt in einem Pflegestuhl. Stützen an der Rückenlehne verhindern, dass der Kopf seitlich abrutscht.
Seit damals hat sie mehrere epileptische Anfälle gehabt. Dann zwei Schlaganfälle, halbseitige Lähmung.
Sie erkennt ihn sofort. Ihre Augen weiten sich.
Unverständliche Laute.
Sie freut sich, erklärt er der Pflegerin. Schließlich hat sie ihn viele Jahre nicht gesehen.
In der Nähe liegt der „Englische Garten“. Er will mit ihr dorthin spazieren gehen. Sie bäumt sich auf. Die Pflegerin gurtet sie fest und er fährt mit ihr los.

Sie stehen auf einer Anhöhe am Kleinhesseloher See und betrachten die Enten im Wasser. Es dämmert. Ein kalter Wind treibt die Spaziergänger nach Hause. Er erzählt von ihrer gemeinsamen Zeit und dass er nur sie geliebt hat. All die Jahre hat er auf diesen Moment gewartet, darauf, dass sie wieder zusammen sein können.
Er will wieder als Busfahrer arbeiten, und wenn sie sich anstrengen, er lacht laut, bekommen sie noch ein Kind, einen Sohn. Er will einen Sohn.
Er fragt sie, ob sie auch einen Sohn haben will. Sie antwortet nicht.
Er fragt sie noch einmal und noch einmal.
Er schreit, hebt die Vorderräder an, damit er in ihr Gesicht sehen kann. Er dreht den Stuhl, packt beide Lehnen und zieht sie zu sich heran. Ganz nah hängt sein Gesicht über dem ihren. Speichel fließt aus seinem Mund und tropft auf ihre Jacke.

Sie ist nur stur, will mit ihm nicht reden. Früher ist sie auch oft stur gewesen, aber das hat er ihr nie durchgehen lassen. Er ist der Mann, und wenn er etwas fragt, muss sie antworten. Die Ehefrau hat zu gehorchen, und wenn sie sich weigert, dann findet er Wege, um sie zur Einsicht zu bringen. Er hat es immer geschafft.

„Lassen Sie die Frau in Ruhe“, ruft hinter ihm jemand. Er hört es nicht. Er versetzt dem Rollstuhl einen Stoß und schaut zu, wie er über das Gras ins Wasser rollt und zur Seite stürzt, doch Melli bleibt stur.

Endversion

Letzte Aktualisierung: 27.04.2012 - 17.17 Uhr
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