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Der Psychopath | April 2012

Schwarz wie die Zukunft
von Angelika Gerber

Es kommt zurück. Es beginnt ganz leise, fast unschuldig. Man hört es kaum. PIEP.
Mein Herz klopft dagegen an, doch es kann das Geräusch in meinem Ohr nicht übertönen. Dieses monotone Piepsen erinnert mich immer daran. Das Schwitzen beginnt. Meine Handflächen werden augenblicklich nass. Nicht schon wieder! Schlaf! Bitte, bitte lieber Gott, lass mich schnell einschlafen. Ich kann es nicht ertragen. Ich kann es einfach nicht, da ist keine Kraft mehr.
Gibt es wirklich einen Gott? Wenn ja, warum hilft er mir nicht? Warum hat er damals all den anderen nicht geholfen? Wie kann er so etwas Furchtbares zulassen?
Genügen nicht schon die vielen Gedanken, die tagsüber unablässig meinen Kopf vereinnahmen? Muss ich jede Nacht wach liegen, alles wieder und wieder durchleben? Wann hört das auf? Wann?
Eine Nacht ohne Schlaf ist endlos.
Meine Füße springen auf, tragen mich, ohne den Befehl dazu, zum Fenster.
Die Scheibe kühlt meine Stirn, die wie im Fieber glüht. Meine Augen füllen sich mit Tränen, sie starren ins Dunkle hinaus, warten auf eine Ablenkung. Irgendetwas soll passieren, nur nicht daran erinnern.
Endlich sehe ich ein Auto heran fahren. Es ist weiß. Weiß wie Schnee, weiß wie die Wolken, weiß wie mein Gesicht? Weiß wie ein Brautkleid. Weiß wie … Mir fällt nichts mehr ein.
Erleichtert sehe ich, wie sich ein anderes Auto nähert.
Schwarz, zeitlos. Schwarz wie die Nacht, schwarz wie der Tod. Nein, nein völlig falsch! Schwarz wie Ebenholz. Schwarz wie die Zukunft?
Das Auto wird langsamer, stoppt direkt vor unserem Haus. Ein großer blonder Mann steigt wie in Zeitlupe aus. Er bleibt stehen, hebt seinen Kopf und sieht hinauf, sein Blick springt mir direkt ins Gesicht. Zitternd ducke ich mich unter die Fensterbank, schlinge die Arme um meine Knie, beginne laut zu schluchzen.
Er sieht ihm ähnlich. Das Piepsen in meinem Ohr wird leiser, verdrängt von einem anderen Geräusch, dass viel grausamer klingt. PENG. Zu spät, die Gedanken werden nicht mehr flüchten, sie sind da, haben mich eingeholt.

Unablässig höre ich, wie es knallt: PENG; PENG; PENG. Es gibt Pausen dazwischen, doch sie dauern nie lange. In jeder Stille keimt in mir die Hoffnung auf ein Ende des Irrsinns. PENG.
Mir wird übel. Wen hat er nun erwischt?
Mein Gesicht ist zerkratzt von den Ästen des Strauches, unter dem ich seit Stunden kauere.
Mit den Armen umschlinge ich meinen Körper, wippe beruhigend hin und her, summe kaum hörbar immer dasselbe Lied. Es riecht nach Urin, nach Erbrochenem. Nach Todesangst.
„Nein, nein, nein“, höre ich jemanden schreien. „Hilfe, helft mir doch, oh Gott.“
Eine Gestalt hetzt geduckt an mir vorbei, ganz nah. Ihr rotes Gesicht glänzt vor Schweiß, die Augen blicken irr nach vorne, der Atem geht keuchend. Ich kenne sie.
„Hier bin ich, komm hierher“, will ich ihr zurufen, aber aus meinem Mund kommt kein Wort. Meine Zunge klebt am Gaumen fest. Die Kehle ist wie zugeschnürt.
PENG, PENG, PENG. Einige Meter hinter meinem Versteck stolpert sie. Fällt nach vorne, ihr Kopf schlägt hart auf dem Boden auf. Sie bleibt liegen. Blut strömt aus ihr heraus.
Er hat wieder getroffen. Ich höre sein entsetzliches Lachen.
Seine Schritte kommen immer näher, der Boden scheint zu beben. Ich mache mich kleiner, immer kleiner. Presse meine Stirn tief auf die Erde und höre für einen Moment auf zu existieren.


„Psst, ist ja gut, Mia, alles ist gut. Sieh mich an mein Schatz, ich bin hier bei dir. Mia, ganz tief durchatmen.“
„Mama“, schluchze ich, „Mama, ich habe ihn gesehen. Er ist vor unserem Haus, er ist hier!“
„Nein, Mia, nein, er kommt nicht hierher. Er kann nicht kommen. Er ist eingesperrt. Mia, es ist vorbei! Vorbei! Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun. Ich passe doch auf dich auf.“
Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und blicke in die vertrauten Augen meiner Mutter. Sie sieht so furchtbar müde aus. Dunkle Augenringe unterstreichen ihren sorgenvollen Blick. Warme, weiche Hände streicheln mir beruhigend über die Haare. Ich drücke mich an sie, sauge ihren Geruch ganz tief in mich ein, fühle mich geborgen. Werde langsam ruhiger.
„Mama, kann ich bei dir schlafen? Nur noch einmal? Bitte!“
„Natürlich, mein Schatz.“
Schnell greife ich nach dem Teddy, nehme meine Mama fest an der Hand und lege mich mit ihr ins große Bett. Der Schlaf übermannt mich, während Mama über mich wacht.
Morgen ist mein 18.Geburtstag.

3.Version
© Angelika Gerber.

Letzte Aktualisierung: 22.04.2012 - 09.28 Uhr
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