Diese Seite jetzt drucken!

Der Psychopath | April 2012

Das Dasein ist ein Waagnis
von Robert Pfeffer

Ein Leben will richtig gelebt sein. Wenn dies zutreffen soll, ist die Aneinanderreihung von guten und schlechten Erfahrungen so vorzunehmen, dass sie ausgewogen sind. Damit ist die oberste Maxime im Dasein von Winfried Kern recht umfassend beschrieben. Er verfolgte sie mit der Gewissenhaftigkeit einer Atomuhr. Das Leben, so verriet er gelegentlich einem seiner wenigen Freunde, besteht aus Gleichgewichten, aus Freud und Leid, Plus und Minus, Soll und Haben. Jede Abweichung davon, jeder zu deutliche Ausschlag in eine der beiden Richtungen, wird unweigerlich ein Kippen dieser Waage zur Folge haben. Der Gedanke daran ängstigte ihn. In Albträumen starb er, ohne seine Konten ausgeglichen zu haben. Wer ein Lokal verlässt, von der Bühne abtritt, den letzten Weg in die Ewigkeit nimmt, muss den Deckel begleichen, die Rechnung zahlen. Und das Schlimmste, was Herr Kern sich ausmalen konnte, war, für diesen Deckel nicht genügend gespart zu haben.

Apropos Deckel. Der Mann, den nur seine Mutter Winnie rufen durfte, füllte sich gegen seine Überzeugung einmal im Monat dermaßen ab, dass er sich regelmäßig hätte krankmelden müssen, legte er den Tag des alkoholischen Vollzugs nicht von vornherein auf einen Freitag. So strich Winfried zwölf Freitage und zwölf Samstage eines Jahres bereits zu Beginn aus dem Kalender. Jene Samstage verbrachte er im Bett, den Eimer daneben, im abgedunkelten Schlafzimmer und hoffte, dass sie vorbeigingen.

Apropos Schlafzimmer. Mit Damenwelt hatte es Winfried nicht so. Gleichwohl war er der unerschütterlichen Überzeugung, dass die Liebe einen festen Platz in seinem Leben einnehmen müsse. In zahllosen Filmen, die er gesehen hatte, ging es um dieses Thema und auch in Büchern tauchte es mit Garantie irgendwann auf. Leider stand die rechte Matratze seines Doppelbettes zwar grundsätzlich zur Verfügung, aber es fand sich keine Frau, die sich mit ihm darauf legen mochte. Der Umstand, dass die Liebe nicht zu ihm kam, sondern er zu ihr gehen und sie bezahlen musste, sorgte dafür, dass er sie auf der Soll-Seite verbuchte. Jessica suchte er alle vierzehn Tage auf, immer mittwochs. Und so strich Winfried sechsundzwanzig Mittwoche. Wenn er nach Hause kam, war er verschwitzt.

Apropos verschwitzt. Sport betrieb Winfried nur äußerst ungern. Ein klares Minus in seiner Rechnung. Gewichte zu bewegen, erschien ihm nur bedingt sinnvoll, lagen sie doch letztlich wieder dort, von wo er sie anfangs anhob. Sein Arzt riet ihm zum Schwimmen, wahlweise Rad fahren, aber das kam für Winfried noch weniger infrage. In beiden Fällen wurde er nass, entweder im Becken oder vom Regen. Also ging er in dieses Studio und umgab sich mit Leuten, denen er sonst wohl nie begegnet wäre. Großflächig Tätowierte, solche, die selbst im Sommer mit einer Mütze herumliefen, dicke Frauen in Leggings und junge Männer, die zwischen zwei Übungseinheiten immer telefonieren mussten. Zweimal die Woche empfahl der Doktor, solle er sich bewegen und so strich Winfried einhundertvier Tage im Kalender. An den Tagen nach dem Training brauchte Winfried dringend Erholung.

Apropos Erholung. Wie alle, die einer geregelten Arbeit nachgehen, hatte Winfried einen Anspruch auf Urlaub. So regelmäßig, wie er arbeiten ging, so regelmäßig verfiel ein Teil davon. Einmal in die Berge, einmal ans Meer, jeweils zwei Wochen, das war der pure Stress. Mehr schaffte er einfach nicht, so sehr er sich auch bemühte. Fremde Kaffeemaschinen, fremde Schlüssel, fremdes Klopapier. Aber normale Leute fuhren in den Urlaub. Er wollte normal sein, also fuhr auch er. Und strich zweimal vierzehn Tage aus dem Kalender.

Apropos Kalender. Er brauchte dringend noch einen halben Tag für etwas Unangenehmes, sonst käme er nicht auf exakt ein halbes Jahr. Dreihundertfünfundsechzig durch zwei gaben leider keine glatte Zahl. Wenn Winfried nicht arbeitete oder die Soll-Seite erfüllte, grübelte er gerne und sah durch sein Küchenfenster hinaus auf die Straße. Gewöhnlich benötigte er die andere Hälfte des Jahres, um auf eine Idee für den fehlenden halben Tag zu kommen. In Schaltjahren kam er zeit seines Lebens durcheinander.

***

„Winnie?“
„Ja, Mutter.“
„Hast du auf Vaters Grab diese Woche das Unkraut gezupft?“
„Nein, Mutter, noch nicht.“
„Hast du schon den Boden in deiner Wohnung gewischt?“
„Nein, Mutter, noch nicht.“
„Warum muss ich dir das eigentlich alles mehrmals sagen? Woche für Woche dasselbe! Es ist nervtötend!“
„Du musst es mir nicht sagen, Mutter, ich mache das schon. Halt erst, wenn ich dazu komme.“
„Winnie, wenn dir etwas an deinem Vater läge, dann würde das Grab nicht so aussehen, wie es jetzt vermutlich aussieht!“

Winfried Kern sah ins Leere. Am Ende davon saß sein Vater auf einem Stuhl. Der Stuhl neben ihm war frei. Winfried war nicht ganz sicher, aber er glaubte ein kleines Schild auf der Sitzfläche zu erkennen. Darauf stand „Reserviert“. Aber für wen? Für seine Mutter? Wieso war eigentlich sein Vater schon seit zwanzig Jahren nicht mehr da, seine Mutter aber jeden Tag? Das war nicht ausgewogen, stellte er fest.

Es war ein Schaltjahr und ihm kam ein Gedanke, was er dieses Jahr mit dem halben Tag anfangen könnte ...

(Version 2)

Letzte Aktualisierung: 22.04.2012 - 18.00 Uhr
Dieser Text enthält 5251 Zeichen.


www.schreib-lust.de