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Der Psychopath | April 2012

Schaustücke
von Martina Bracke

Erst hatte Melissa zehn Minuten lang versucht, ihr Auto in Gang zu setzen. Als es endlich klappte, fuhr sie eilig los und schnallte sich wie immer erst im Fahren an. Die rasende Reporterin stand allerdings bei ihrer Fahrt quer durch die Stadt im Stau. Na wunderbar. Unterwegs erwischte sie ihren Interviewpartner kurz vor dem nächsten Funkloch. Gott sei Dank zog der Professor eine Untersuchung vor und wartete auf sie. Sie würde nichts verpassen.
Wie sie anschließend pünktlich zu ihrem nächsten Termin kommen sollte, das wollte Melissa im Moment nicht wissen. Statt dessen nutzte sie die Zeit im Stadttunnel, um mit schlagermusikalischer Untermalung aus dem Autoradio zu rekapitulieren, was sie über die „Klapse“ wusste. Viel kam dabei nicht heraus. Hundertjährige Geschichte, zahllose Erfolge, aber auch Misserfolge, wie der Ausbruch eines Insassen vor fünf Jahren, der anschließend noch drei Menschen tötete, bevor er endgültig gefasst werden konnte.
Als sie aus dem Tunnel wieder ans Tageslicht fuhr, genoss Melissa die Sonne, die die Felder zum Leuchten brachte. Auch die Klinik erschien in freundlichem Licht. Mehrere Gebäude verschiedener Jahrgänge in dezenten Beigetönen bildeten einen beeindruckenden Komplex. Hinein kam Melissa mühelos, sie musste lediglich als Besucherin kurz unterschreiben. Schließlich gab es auch Tagespatienten und vor allem offene Abteilungen, wie ihr der durchaus attraktive Professor in den Vierzigern gleich zu Beginn erklärte. Aber natürlich seien die Menschen „draußen“ erst einmal an den geschlossenen Abteilungen interessiert. Das sei eben die Natur des Menschen, immer auf der Jagd nach Sensationen und Thrill.
Was sollte Melissa als Journalistin dazu sagen? Sie lebte auch eher von den aufregenden Stories als vom Nachbarschaftsglück. Und schließlich besuchte sie die Klinik vor allem wegen der geschlossenen Abteilung, die seit jüngster Zeit wieder zwei Serienmörder beherbergte, die das Land monatelang in Aufregung versetzt hatten.
Aber erst ließ sie den Professor erzählen, der sehr interessante Lachfältchen rund um seine blauen Augen hatte und mit angenehmer Stimme die Tour durch die Häuser untermalte. Melissa spielte eine Runde Tischtennis mit Jugendlichen, erschreckte sich aber, als diese schon beim ersten Ballverlust zu schreien anfingen, was sie auch bei allen weiteren taten. Sie schaute in die Kreativräume, wo manche sich nicht trauten, mit den Fingern zu malen, sondern lieber fein ziseliert mit dem Pinsel streichholzschachtelgroße Miniaturen verewigten. Bei zweien hielt die Ewigkeit allerdings auch nur knapp zwei Minuten, bis sie fanden, das Bild sei scheußlich, und es wieder zerstörten.
Reichlich erschöpft gelangten sie endlich in die „Geschlossene“, wo es keine Spiegel im Bad gab, weil die Patienten sie zerschlugen und die Scherben als Waffe, vor allem auch gegen sich selbst, einsetzten. Einige Patienten liefen auch hier in ziviler Kleidung durch die Gänge oder spielten tatsächlich Skat. Zwei saßen in einer gemütlichen Sofaecke, in eine Schachpartie vertieft.
Wo waren denn nun die Serienmörder? Melissa nahm dankbar den Kaffee, den der Professor ihr im Schwesternzimmer anbot, und fragte unverblümt nach den schweren Fällen.
„Schwere Fälle?“, meinte der Professor amüsiert. „Eine interessante Formulierung. Unseren beiden Serienmördern sind Sie bereits begegnet.“
Ungläubig sah Melissa auf.
„Was haben Sie erwartet? Dass wir hier Monster in Ketten halten? Kommen Sie. Ich zeige Ihnen einen „leichteren“ Fall. Er hat bisher nur eine Frau getötet. Dann konnte er bereits gefasst werden. Und anschließend müssen Sie sich noch unser Raritätenkabinett ansehen.“
Neugierig erhob sich Melissa, für einen Moment stand sie dicht vor dem Professor und nahm sein angenehmes Rasierwasser wahr, bevor sie sich beide zur Tür wandten.
„Nach Ihnen.“
Er dirigierte sie in einen weiteren langen Korridor. Etwa in der Mitte betraten sie einen Überwachungsraum. Von dort hatten sie die Sicht auf ein Zimmer, das vollkommen rosa gehalten war. Sämtliche Wände, selbst die Decke und der Fußboden strahlten in rosa, lediglich an der gegenüberliegenden Seite gab es ein kleines Fenster, aus dem ein wenig blauer Himmel das Rosa unterbrach, unerreichbar für den Insassen.
Ein Alptraum, dachte Melissa.
„Der Traum jedes Mädchens“, schmunzelte der Professor.
Melissa konnte nicht anders, als den Patienten zu bedauern. Das Grauen all der Wohnshows im Fernsehen, sämtlicher Mädchenzimmer im Bekanntenkreis, aller Prinzessinnenkleider des Karnevals stieg vor ihrem geistigen Auge auf. Sie schüttelte sich.
„Wir arbeiten nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Rosa beruhigt aggressive Menschen.“
Ja, dachte Melissa, bis auf mich. Sie versuchte, ihre Aversion zu verdrängen, widmete sich vielmehr der Musik, die sie im Kontrollraum leise spielen hörte. Irgendetwas Klassisches.
„Das ist unsere zweite Komponente“, erklärte der Professor. „Wir setzen auch Musik ein, um zu beruhigen und Hirnströme zu verändern. Vielleicht haben Sie es im Vorfeld Ihres Besuches recherchiert, unsere „schweren“ Fälle sind manchmal auch einfach nur „hoffnungslose“ Fälle.“
Irritiert sah Melissa den Professor an.
Der winkte sie wieder aus dem Raum hinaus. Melissa blieb noch einen Moment an der Trennscheibe stehen, als der Patient plötzlich aus seiner gehockten Stellung aufsprang, mit voller Wucht dagegen hämmerte und schrie: „Ich kriege euch alle!“
Melissa zuckte zusammen und wich zurück, direkt in die Arme des Professors.
„Keine Sorge“, versicherte dieser, „er kann uns nicht sehen.“
Er schob sie in den Gang. „Erinnern Sie sich? Malkov hatte mit dem Blut seiner Nachbarin Briefe geschrieben, bis kein Blut mehr da war. Bis die Nachbarin tot war.“
Melissa überlief ein Schaudern, doch gleich ärgerte sie sich darüber, denn der Professor, der noch immer die Hand auf ihrem Rücken hielt, hatte es sicher bemerkt. Ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr aber nur ein beruhigendes Lächeln. Er nahm die Hand wieder fort, deren Wärme noch einen Moment nachhallte.
„Ich führe sie nun in unser Raritätenkabinett.“ Mit Schwung öffnete er die letzte Tür des Ganges.
„Oh Gott“, entfuhr es Melissa.
„Versuchen Sie, es nüchtern zu betrachten“, lächelte der Professor und drückte Melissa in einen Raum, in dem auf einzelnen Säulen sicher an die hundert Gläser standen. Jedes einzelne ausgeleuchtet, während der übrige Raum nur von diesem Licht zehrte.
Der Professor trat an ein Glas heran und sein Gesicht sah in dem abstrahlenden Licht maliziös aus. „Sehen Sie“, meinte er beinahe zärtlich, „diese einmaligen Formen!“
Melissa schüttelte ihren Schreck ab, trat neben ihn und betrachtete das erste der hundert Gehirne, die hier in friedlicher Eintracht museal inszeniert standen.
„Schon alle meine Vorgänger beschäftigten sich mit der Hirnforschung. Damals weniger über Messungen von Hirnströmen, als mit dem Sezieren realer Gehirne. Das Gehirn von Psychopathen, wie wir sie heute nennen, weist danach verschiedene Anomalien auf.“
„Das können Sie natürlich nur entdecken, wenn Sie sie mit gesunden Gehirnen vergleichen.“ Der Professor nickte und freute sich offensichtlich über so viel Verständnis.
„Wo bekommen Sie die Gehirne her?“, fragte Melissa.
„Nun, normalerweise sind unsere Insassen so nett und überlassen sie uns nach ihrem Tode.“
„Und die anderen?“
„Die Vergleichsobjekte erben wir sozusagen. Nach dem natürlichen Ableben oder auch von Unfalltoten. Eine kleine Unterschrift zu Lebzeiten genügt. Wie Sie eine bei ihrer Anmeldung geleistet haben.“
Melissa sah ihn irritiert an.
„War nur ein kleiner Scherz. Sie können sich ja gleich wieder austragen.“
Melissa aber fragte sich, was sie wirklich unterschrieben hatte bei der Anmeldung. Lange Zeit blieb ihr dafür nicht. Kaum dass sie das Raritätenkabinett verlassen hatten – Melissa mochte es auch nach wohlwollender wissenschaftlicher Betrachtung nicht, schließlich waren ihr auch ausgestellte Mumien zuwider – eilte ihnen ein Pfleger entgegen.
„Professor, kommen Sie, er randaliert!“
Mit fünf Mann hielten sie den Tintenmörder, versuchten ihn festzuschnallen und ihm eine Spritze zu geben. Dabei schrie der Mann unentwegt und schaute mit irrem Blick auf die Glasscheibe, hinter der sich Melissa verbarg. Bevor die Spritze endgültig wirkte, bäumte er sich noch einmal auf, schien er ihr direkt in die Augen zu schauen. „Ich kriege euch alle!“ Dann verlor sich sein Blick und der Körper entkrampfte.
Melissa hatte genug, fand, dass sie nun reichlich Material für ihren Artikel beisammen hätte, und dankte dem Professor für seine Zeit, Geduld und das informative Gespräch.
Ihr Abgang kam für ihn vielleicht ein wenig plötzlich, aber nach alldem sehnte sich Melissa nach Sonnenlicht, wogenden Getreidefeldern und blauem Himmel. Nach heiler Welt ohne Rosa und formidable Gehirnwindungen.
Der Professor geleitete sie noch bis zum Tor, setzte zu der Frage an: „Wollen wir vielleicht einmal essen gehen?“ Er sah ein wenig enttäuscht aus, als Melissa nur ein eiliges „Vielleicht“ für ihn übrig hatte und ohne viele weitere Worte zum Parkplatz schritt. Innerlich würgte sie an Kalbsnierchen und anderen Innereien.
Unendlich erleichtert stieg sie in ihr geliebtes sicheres Auto, warf die Jacke nach hinten und die Notebooktasche achtlos auf den Beifahrersitz, startete den Motor schon im zweiten Versuch, schaltete gewohnheitsmäßig das Radio ein und setzte bereits rückwärts aus der Parklücke. Mit leichtem Bedauern für den sympathischen Professor und die entgangene Chance, aber doch lieber mit einem Blick auf die Uhr für ihren nächsten Termin bog sie schwungvoll auf die Straße. Dabei rutschte ihre Tasche vom Sitz. Reflexartig griff sie danach, erreichte sie auch. Kein Gurt, der sie behinderte. Dann nur noch quietschende Reifen, ein lautes Krachen, eine Wolke von Rosa und klassische Musik, die durch gleißendes Sonnenlicht tönte. Und eine Stimme: „Ich kriege euch alle.“

© mb2012, 2. Version

Letzte Aktualisierung: 19.04.2012 - 13.22 Uhr
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