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Der Psychopath | April 2012

Animal Farm: Us vs. Them!
von Jochen Ruscheweyh

Draußen ging schon wieder die Sonne auf. Viertel vor vier.
Also zog ich mir etwas über, schlurfte die Treppe herunter, durch den Flur auf die Veranda. Paulina saß mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt und rauchte eine Zigarette.
„Du meinst sicher, ich kann dich nicht leiden. Aber das stimmt nicht.“ Sie klopfte mit ihrer rosa Pfote auf den Mauervorsprung. „Komm, setz’ dich neben mich!“
Dass Paulina sprechen konnte, verblüffte mich nicht. Ich war vielmehr überrascht, dass ihre Stimme so viel weicher als ihr hysterisches Quieken vom Vortag klang.

Die Mauer dünstete die Kühle und Feuchte der Nacht aus. Paulinas Vorderbein aber fühlte sich wunderbar warm an, genau was ich jetzt brauchte und besaß dieselbe Haptik – das Lieblingswort meines Vaters – wie der hochwertige Velour-Teppich im Schlafzimmer meiner Eltern.
Wir hockten eine Weile dort in der Morgendämmerung, ohne dass unser Schweigen unangenehm wurde. Ich glaube, es passierte, als Paulina ihre Zigarette ausdrückte, dass sie mich ansah und sagte:
„Weißt du, was dein Problem ist? Deine Antriebsarmut! Und dir fällt es schwer zu differenzieren.“
Ich erkannte nicht sofort, worauf Paulina hinaus wollte. Dann legte sie ihre Pfote an meine Stirn, und wie ein Einspieler in einem TV-Boulevard-Magazin blitzten Situationen vor mir auf: Gelegenheiten, bei denen ich mein vermeintliches Schicksal widerstandslos angenommen hatte, statt das einzufordern, was mir zustand.
Irgendwann erhob sich Paulina und sagte: „Es könnte sein, dass ich dir demnächst wehtun muss. Nimm es mir nicht übel, aber es geht manchmal nicht anders.“
Ich sagte: „Okay“, denn ich wusste, ich würde sie töten. Nicht Morgen, aber spätestens, wenn sie mir geholfen hatte, mein Ziel zu erreichen.
Dann schritt sie aufrechten Ganges in Richtung Stall, als wäre es das Normalste der Welt für eine Sau.

„Los, jetzt bist du dran!“, drängte mich Michael in den Verschlag. „Die Sau is’ harmlos, du musst nur deinen inneren Schweinehund überwinden.“
„Jau, Schweinehund, das is’ gut. Ich lach’ mir ’n Ast. Volle Kanne doppeldeutig!“, fiel Frank mit ein.
Was für Komiker! Aber ich hatte Zeit. Kleine Ziele, die realistisch zu erreichen sind, das trichterten sie einem doch immer ein, egal welche Maßnahme, welches pädagogische Konzept und welcher Kostenträger. Alles vollkommen durchschaubar.
„U S V S t eem?“, las Michael, „Warum haste ’n die beknackten Buchstaben auf deinem Shirt drauf?“
Noch etwas Aufgeschnapptes: Man musste den Klienten da abholen, wo er stand! Also sagte ich: „Mann, null Ahnung, irgend so eine Wäscherei-Nutte muss mein Zeug vertauscht haben!“
Michael gab mir einen Klaps auf den Rücken: „Wennste noch mehr Probleme mit den da in die Wäscherei hast, dann sag Bescheid, die ham sowieso noch was bei uns im Salz liegen.“

Ich hatte das Gefühl, dass Paulina mich anstarrte. Sämtlicher Liebreiz, den ich vor wenigen Stunden noch in ihren Augen gesehen hatte, schien verschwunden. So wie sie es angekündigt hatte. Sie hatte sich wieder in das zurückverwandelt, was sie in Wirklichkeit war: Eine fette Geburtsmaschine, die einmal halbiert an einem Haken hängen und einen blauen Kreis für minderwertige Qualität auf die Hüfte gestempelt kriegen würde.
Paulina grunzte. Laut, wild und hässlich.
Dann schoss etwas vor, zerriss meine Hose, rammte seine Hauer in meine Wade und begann, mit den Kiefern zu mahlen.
Ich spürte mich! Der Schmerz kam direkt und mit unbeschreiblicher Intensität, stärker als ich erwartet hatte. Irgendwie schaffte ich es dennoch, keinen Laut von mir zu geben und mir mit meinem Blut drei Striche auf jede Wange zu ziehen, bevor ich in Bewusstlosigkeit versank.

„Kannst du mir mal verraten, wie man das anstellt, eine altersschwache Sau so zu reizen, dass sie einem den kompletten Unterschenkel zerfetzt, Junge?“
Ich drehte mich auf die andere Seite. Was wusste dieser Drei-Betten-Hospital-Arzt schon über meine Motivation oder über Paulina?
„Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass unser Herrgott dir mehr Intelligenz mitgegeben hat als den ganzen anderen kleinen Idioten in dieser Maßnahme, die nach meinem Dafürhalten nur Steuergelder verschwendet, dann würde ich jetzt mein Autogramm unter den Antrag setzen und dich postwendend wieder rüberschicken.“
Er machte eine kleine Pause, schien auf eine Reaktion von mir zu warten.
„Aus deiner Akte weiß ich, dass du viel über Reisen und fremde Kulturen liest. Und dass du dich gut ausdrücken kannst. Also, willst du über irgendwas reden?“, versuchte er noch einmal, mich herauszufordern.
Ich stierte erst ihn – Dr. Jankermann, wie er sich vorgestellt hatte – , dann die Wand an.
„Also, gut, es ist dein Leben, nicht meins“, sagte Jankermann. „Noch drei Tage zur Beobachtung, dann gehst du wieder rüber.“

Einige Tage später kam Paulina in mein Zimmer und brachte mir einen bunt zusammengestellten Strauß Sommerblumen, so wie sie damals zu Hauf an der Straße gelegen hatten.
Eine Weile saß sie nur schweigend da, dann entledigte sie sich ihrer sehr geschäftsmäßig wirkenden Kostüm-Jacke, die nicht über ihre wirkliche Profession hinwegzutäuschen vermochte. Ihr Bauch mit den rosafarbenen Zitzen fiel in mehreren Wellen über ihre Hose.
„Findest du mich eigentlich attraktiv?“ Was für eine Frage an jemanden, dem sich augenblicklich nicht viele Möglichkeiten boten!
Ohne eine Antwort abzuwarten, schälte sie sich aus ihrem knappen karierten Hüftrock und kroch zu mir ins Bett. „Du weißt, dass es nur um eins geht, oder?“
Ich nickte. Dann sagte ich: „Ja“, und dachte: ’Wir oder sie!’
„Gut“, grunzte sie und fing an mich zu zwicken und zu beißen.
„Du musst dich fallen lassen“, schnaubte Paulina, während ihr Speichel meinen Bauch benetzte. Dann konnte ich es fühlen, begann mich hin- und herzuwerfen, zu wälzen und stieg in ihr Quieken mit ein.

Wir lagen auf dem Rücken, Paulina hatte einen Arm oder, besser gesagt, ihr Vorderbein um mich geschlungen und blies den Rauch ihrer Zigarette in die Luft.
„Ich glaube, ich mache Fortschritte. Unterstützt du mich weiter?“, fragte ich.
„Sicher, schließlich liegt mir was an dir.“
Ich brach eine Mohnblüte von meinem Strauß ab und steckte sie hinter Paulinas Ohr.
„Ich muss wieder los“, sagte sie und ließ den Rauch aus ihrer runden Schweinenase strömen.


Hanna Alina Kleinschmidt als eine engagierte Sozialarbeiterin zu bezeichnen, wäre meiner Meinung nach übertrieben gewesen. Sie machte ihren Job und schien froh zu sein, wenn sie so oft wie möglich rauchen und Kaffee trinken konnte. Keiner der anderen Teilnehmer hatte trotz ihrer weiblichen Rundungen jemals irgendein Interesse an ihr als Frau signalisiert, was ungewöhnlich für diese Art von therapeutischer Maßnahme war. Trotzdem konnte sie die meisten der auffällig gewordenen jungen Erwachsenen recht gut führen, ihnen Grenzen aufzeigen, sie, wenn nötig, aber auch mal umarmen; eine Grundhaltung, auf der ich aufgebaut hatte.
„Was macht dein Bein?“, fragte sie so laut, dass die anderen es hören konnten und deutete auf meinen Unterschenkel, den ich auf einem Strohballen hochgelegt hatte.
„Muss.“
„Es ist wichtig, dass du trotz deiner Verletzung mit dabei bist, wegen deiner Integration in die Gruppe.“
„Ja, schon klar.“
Hanna Alina stützte sich auf das Gatter, das sonst Vieh und Mensch trennte und stellte mit übertriebener Fröhlichkeit fest: „Hier fließen jede Menge positive Energien. Ihr Jungs arbeitet an euch, mental wie physisch. Das spüren selbst die Tiere hier.“ Sie zog sich ein paar Halme Stroh von ihrer Reiterhose. Leicht überschwänglich holte sie etwas Rotes hervor und steckte es sich hinter ihr Ohr. Mohnblüten im Sommerwind. Dann fügte sie leiser an: „Auch wenn du mit deiner Verletzung beeinträchtigt bist, versuch’ mal in dich hineinzuhorchen. Wonach ist dir gerade, was möchtest du tun, Daniel? Hab’ keine Angst, deine Emotionen zu verbalisieren, ich fange dich auf!“
Ich blickte ihr in die Augen. Als Gratiszugabe bekam Hanna Alina das schönste antrainierte Psychiatrie-Lächeln, das ich akut abrufen konnte. „Hörst du das eigentlich auch?“, fragte ich.
Ihr „Was?“ ging regelrecht unter in dem anschwellenden Gequieke der Schweine: oink oink us oi versus oink theeem oink. Hanna Alina - nein, jetzt erkannte ich, dass mir in Wirklichkeit Paulina gegenüberstand, lehnte mit fragender Miene am Gatter und schien immer noch zu horchen. Ich setzte zu einem Scherensprung über die Begrenzung an. Beruhigend lief das Blut aus meiner aufgeplatzen Naht am Bein. Ich legte ihr die wunderbare Perlenkette, die ich aus Hanna Alinas Zimmer entwendet hatte, um. Sie sollte schließlich hübsch für ihren Tod sein. Aus demselben Grund hatte ich damals schließlich das Auto gewaschen, bevor ich auf der Landstraße auf die Jagd ging. Mit einem letzten Kuss auf ihre Wange hauchte ich ihr „us vs. them“ entgegen. Dann reichte ich ihr die Schatulle mit den Tabletten, die ich nicht geschluckt, sondern unter der Zunge behalten, später ausgespuckt und gesammelt hatte.
Paulina versuchte ihr wissendes Schweinelächeln. Auch sie war so leicht durchschaubar, jetzt. Ich schlug ihr sanft unter die Pfote. Obwohl die Tabletten wie buntgefleckte Mini-Flummis aussahen, sprangen sie nicht wieder vom Boden hoch. Ich legte meine Hand auf die Stelle unter Paulinas Zitzen, eine gute Stelle, an der keine Knochen im Weg waren, wo sich die Bauchdecke leicht durchbrechen ließ. Es erinnerte mich an damals: Der Gnadenstoß nach meinem Wildunfall mit menschlichem Wild.
Ich nahm den rostigen Jesusnagel, den ich in tagelanger Arbeit aus einem Stallbalken gezogen hatte, und holte aus. Noch ehe ich es vollenden konnte, packten mich die kräftigen Arme von Dr. Jankermann, seine langen Zähne verbissen sich in meinem Oberarm. Dann umringten mich Paulina und der restliche Abschaum, der im Stall arbeitete, und trieben ihre abgebrochenen, verfärbten, kariösen Zahnstümpfe ebenfalls in mein Fleisch.


Version 3

Letzte Aktualisierung: 27.04.2012 - 13.38 Uhr
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