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Der Psychopath | April 2012

Der Krone der Schöpfung so nahe
von Thea Derado

Professor Dreistein huscht auf Zehenspitzen durch die Schleuse, zieht behutsam die Tür hinter sich zu. Bloß keinen Krach machen, denkt er, das könnte den Erfolg des Experiments gefährden.
Im sterilen Schutzanzug und mit Atemmaske kommt er sich selbst vor wie einer der Trümmermänner von Fukushima.
Die Nachtsichtleuchte auf der Stirn lässt ihn den Weg finden.

Oijoi, bin ich aufgeregt, gesteht er sich ein. Wie ein Jüngling vorm ersten Rendezvous.
Forscherfreuden seien viel hehrer als Vaterfreuden, hatte ihm bereits sein Doktorvater prophezeit. Obwohl der als ewiger Junggeselle ja auch keinen Vergleich hatte. Seine einzige Geliebte war die Wissenschaft.

Dort in dem abgedunkelten Raum, dort wartet Dreisteins Lebensinhalt, die Frucht jahrelangen Bemühens.

Bebend schleicht er in den Laborraum.
Ein zaghafter Blick: Ja, es lebt!
Die Ehrfurcht vor seinem pulsierenden Meisterwerk zwingt ihn in die Knie.
„Du, mein Wunderwerk! Meine zarte Ophelia!“, haucht er ergriffen. Die fluoreszierenden Marker lassen deutlich Aktivitäten innerhalb des Zytoplasmas in diesem durchscheinenden Gebilde erkennen.
„Kaum kann ich es fassen, wenn ich an die erste Zeit des Experiments zurückdenke. Tausende vergeblicher Ansätze. Anfangs die wenigen Zellen in Petrischalen. Was habe ich nicht alles probiert, unterschiedliche Nährlösungen, Zusätze von Antibiotika. Dann die ersten Gewebe, die sich auch differenzierten.“
Mit leuchtenden Augen bewundert er das Wesen, das nun schon eine Plastikwanne füllt. Die Krönung aller Mühe, sein Wunderwerk, seine Königin! Ihr hat er sich ganz und gar verschrieben.
Sehr empfindlich ist sie allerdings, wie eine Prinzessin auf der Erbse. Licht verträgt sie überhaupt nicht.

„Musst du ja auch nicht, meine Geliebte. Stoffwechsel und Energie-Erzeugung hat mein Mimöschen gar nicht nötig. Dafür bin ich ja da. Gleich bekommst du deine mit Liebe zubereitete Nährlösung, damit du groß und stark wirst.“
Auf einer Präzisionswaage misst Dreistein die Zutaten für die nächste Mahlzeit, gibt alles in einen Erlenmeyer-Kolben, löst es in destilliertem Wassers.
Zärtliche Worte flüsternd, gibt er seinem Geschöpf die Flasche.
Er fühlt sich wie Mutter und Vater zugleich.

„Was ich in dir gezeugt habe, ist einmalig. Gell, das weißt du? Ich bin sicher, du verstehst mich, besser als je ein Mensch. Deine Gene haben sich prächtig in Hirnzellen ausgeprägt. Du mein denkendes Konglomerat! Du Krone der Schöpfung! Mehr als ein homo sapiens! Wann kommt denn der Mensch schon zum schöpferischen Denken? Ich beneide dich, meine makellose Schöne.“
Seine Blicke streicheln und liebkosen das Geschöpf.

„Ich danke dir, dass du mir gestattet hast, einen Computer anzuschließen. Du Wunderwesen löst bereitwillig alle möglichen Fragen, während ich hin und wieder in meinem Büro ein Nickerchen halte. Wie könnte ich dich für längere Zeit verlassen! Dir gehört all mein Sehnen und Fühlen, nur in deiner Nähe fängt mein Herz an zu singen! Aber das spürst du ja selbst.

Nun schau ich doch gleich mal nach der letzten Aufgabe, die war ja sehr komplizierte. Ich könnte sie nicht lösen.“
Dreistein geht zum Computer. Er schnappt nach Luft. „Wahnsinn! Oh, wenn ich dich Wunderschöpfung doch umarmen und herzen könnte!“

Der Professor sieht sich seinem innigsten Wunsch, eines Tages den Nobelpreis zu bekommen, ganz nah. Nicht nur in Genetik! Nein, auch gleich in Physik! Das, wonach Generationen von Physikern vergeblich gesucht haben, die Weltformel, dank Ophelias Geisteskräften wird er sie finden! Die Formel, in der Quantenphysik und allgemeine Relativitätstheorie verschmelzen, die von Quarks bis zu den Galaxien alles erklären wird! Hach, Stephen Hawking wird erblassen! All jene, die an der M-Theorie rumrechnen, die nicht mehr aussagt als Worte wie Schicksal oder Zufall, wird er weit hinter sich lassen.
„Oh, meine Teuerste, wir sind der Wahrheit so nahe. Ich muss nur die Fragen richtig formulieren. Dann triumphiere ich über alle Welt!“

Konzentriert sitzt Dreistein am Computer. Alles ist schon gespeichert, um es seinem Baby, seiner Schöpfung, elektronisch einzuflüstern. Mit Beginn des Semesters muss er sich ja wieder um den Hochschulbetrieb kümmern. Also schnell!

Geistig abgeschottet, vernimmt Dreistein nicht die heiteren Stimmen im Vorraum, in der Schleuse. Zu spät wird er gewahr, dass zwei seiner Doktoranden die Tür zum Labor aufreißen und die Deckenbeleuchtung anknipsen.
Sein schrilles ‚Nein‘ kann nicht verhindern, dass seine Sensible, dem Lichtkegel ausgesetzt, mit entsetzlichem Zischen und Fauchen zerbirst. Gelatinebrocken fliegen in alle Richtungen.
Wütend schreit er die beiden jungen Wissenschaftler an, die nichts begreifen.
Dann überwiegt die Verzweiflung, der Schmerz um den Verlust des geliebten Wesens. Leben, von ihm geschaffen, zwar ohne jegliche Farbe und Gestalt, doch mit der allergrößten Geistesstärke!
Tränen springen ihm aus den Augen, ihm, der noch nie um einen anderen Menschen geweint hat.
Sich die Haare ausreißend, springt er auf, stürzt sich wie ein Wahnsinniger in die Katastrophe hinein.

Der gebrochener Mann springt in die Plastikwanne, umfängt die schleimige Substanz und vergräbt seinen Kopf darin.
Über ihm schlägt die Gelatine zusammen, als wolle auch sie ihn umarmen.



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Letzte Aktualisierung: 26.04.2012 - 22.09 Uhr
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