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Der Psychopath | April 2012

Helfersyndrom
von Katharina Conrad

Die Nachbarn hielten ihn für verrückt, das war ihm klar. Sämtliche Gartenzaungespräche verstummten, sobald er auftauchte. Und selbst, wenn er im Haus blieb – kein Schulkind trödelte, wenn es an seinem Grundstück vorüberging, nur die Mutigsten trauten sich, einen Stein oder ein Stück Plastik über den Zaun in seinen Garten zu werfen. Dabei forderte es genaugenommen gar nicht so viel Mut. Seine Rollläden blieben ohnehin den ganzen Tag geschlossen.
Keinen ging etwas an, was hinter seinen Jalousien war. Und was draußen vorging, juckte ihn gerade so sehr wie der hohle Zahn in seinem Unterkiefer. Das Einzige, was ihm außerhalb seiner vier Wände etwas bedeutete, war sein Vorgarten, wo jeder Grashalm seinen Platz und kein Kieselchen auf den sorgsam gekehrten Wegplatten etwas verloren hatte. Die Gartenarbeiten verrichtete er nur in den frühen Morgenstunden – oder spät am Abend, wenn die tratschenden Weiber mit ihren Einkaufstaschen da waren, wo sie hingehörten, und der nervtötende Kinderlärm hinter sternenhimmelbedruckten Vorhängen erst zu Gejammer abgeklungen und schließlich ganz verebbt war.

Er seufzte und bahnte sich einen Weg durch Papierstapel, speckige Kartons und blaue Müllsäcke bis in die Küche, wo er sich einen Apfel nahm und auf die Suche nach einem Messer begab, das halbwegs sauber war. Von den drei Glühbirnen unter der Decke tat nur noch eine ihren Dienst, darum sah er sich gezwungen, den Rollladen ein Stück hinaufzuziehen. Grell drang das Tageslicht durch die Schlitze und bemalte das Chaos seiner Küche mit einem unwirklichen, zackigen Muster. Da! Ein Messergriff lugte aus einem Pizzakarton.

Draußen erklang Johlen und Gelächter. Er presste sich seitlich an den Fensterrahmen und erkannte gerade noch, wie aus einer Papiertüte Unrat auf sein sorgsam gejätetes Erikabeet regnete. Bananenschalen, Tetra Paks, Taschentücher …
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Erst, als er nach dem Rollladengurt greifen wollte und ihm etwas Warmes über den Ellenbogen rann, erinnerte er sich wieder an das Messer in seiner Hand.
Der Schnitt war nicht tief, aber er blutete. Auf der Suche nach etwas Sauberem stolperte er und stieß sich den Kopf am Türrahmen. In dieser Sekunde läutete es an der Tür.
Fluchend schnappte er sich das nächstbeste Küchentuch und schlang es um seine Hand. Seine Stirn pulsierte, und er ertastete eine leichte Wölbung mit der Konsistenz einer Geléebanane.
Wer immer da draußen stand, er würde auch wieder verschwinden.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, ohne ein zweites Klingeln oder einen Ruf oder sonst irgendeine Vorwarnung.
Verdammte Kacke, immer kam alles auf einmal. Nur eine Person außer ihm besaß einen Schlüssel, von Amts wegen. Sein Kopf dröhnte. Die dämliche Tussi von der Fürsorge hatte er wie üblich verdrängt … war echt schon wieder Dienstag?

„Herr Rabel?“
Ob es ihm etwas nützen würde, sich zu verstecken? Einen Moment lang war er versucht, sich einen Karton über den Kopf zu ziehen und auf Tauchstation zu gehen, aber dieses Weib war hartnäckig. Sie würde alles durchsuchen, alles durcheinanderbringen …
„Hier.“
Sie steckte den Kopf durch die Küchentür. Ihr staunender Blick galt jedoch nicht ihm, sondern dem Küchenfenster.
„Tageslicht!“, rief sie, als hätte er das Rad erfunden.
Dann der übliche Ausdruck mühsam unterdrückten Ekels, bis sie seine umwickelte Hand und das Blut daran bemerkte.
„Was … und Ihre Stirn!“ Sie streckte die Hand aus, überlegte es sich dann aber offenbar anders und zog sie wieder zurück.
„Sie sind ja verletzt.“
„Ist nicht schlimm“, antwortete er. „Bin nur wo hängenblieben.“
„Hängengeblieben! Ständig rede ich auf Sie ein, aber Sie wollen ja nicht hören …“
Mit hochgezogenen Brauen tasteten ihre Augen über seine etwas … individuelle Küche, dann sah sie ihn an. Er konnte förmlich hören, was sie dachte, aber es war ihm egal.
„Machen Sie das ab, sofort.“ Sie deutete auf seine Hand. „Sie holen sich eine Infektion, so dreckig wie das ist.“
Ergeben löste er das Tuch und warf es ins Waschbecken, wo es sich mit der fettig-braunen Flüssigkeit aus einem eingeweichten Kochtopf vollsog.
Der Schnitt hatte aufgehört zu bluten.
„Zeigen Sie her“, befahl sie und zog zwei Taschentücher aus ihrer Handtasche, die sie um ihre Zeigefinger schlang, bevor sie auf seinen Handballen drückte. Er zuckte zusammen, als die Wundränder auseinanderklafften und erneut ein dünnes rotes Rinnsal herauslief.
„Das muss zum Arzt.“ Ihr Ton duldete keinen Widerspruch.
Er versuchte es trotzdem. Ärzte waren ihm ein Gräuel. Alles außerhalb seiner Wohnung war ihm ein Gräuel, und sie wusste das.
„Ich hab Verbandszeug“, sagte er, und auf ihren zweifelnden Blick hin: „Und sogar was zum Desinfizieren.“
Sie schüttelte den Kopf, schon zu sehr in Fahrt, um eine andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
„Nein, mein Lieber. Ich trage die Verantwortung für Sie, und ich bring Sie jetzt ins Krankenhaus. Nachher kriegen Sie Wundstarrkrampf oder so was.“

Auf der Fahrt ins Krankenhaus wurde ihm immer mulmiger. Die Helligkeit, die Menschen, die vollgestopften Straßen. Die laute, hektische Musik aus dem Autoradio …
„Bringen Sie mich nach Hause, bitte. Es ist doch gar nichts, schauen Sie, es blutet nicht einmal mehr.“
Sie biss auf ihre Unterlippe und raste über Dunkelorange, als ginge es um Leben und Tod.
„Wann hatten Sie die letzte Tetanusimpfung?“
Er schaute aus dem Fenster.
Mit quietschenden Reifen hielt sie direkt vor der Notaufnahme.
Ein weißer Kittel mit Inhalt erschien im Laufschritt, verlangsamte aber sofort, denn offensichtlich war kein Reanimationsteam erforderlich. Der Patient atmete und war imstande zu gehen.
Sein freundliches Lächeln trug allerdings auch nicht dazu bei, dass Herr Rabel sich besser fühlte. Dieses riesige, von außen wie von innen gekachelte Gebäude, die vielen Leute, die ihm gleich den letzten Rest seiner Selbstständigkeit genau so freundlich lächelnd aus den Händen nehmen würden, und über allem dieser fürchterliche Gestank nach chemischer Keimfreiheit … seine persönliche Vorhölle. Schlimmer kann es nicht werden, dachte er, als er in einen Untersuchungsraum geführt wurde.

„Ich kümmere mich um die Personalien“, erklärte sie und rang sich dazu durch, ihm die Hand auf die Schulter zu legen. „Danach warte ich im Aufnahmebereich auf Sie, ja?“
Er war froh, als sie fort war, obwohl ihm die Instrumente und Kanülen in Einwegverpackungen, die Infusionsflaschen und medizinischen Geräte Angst machten.
Ein Arzt tauchte vor ihm auf, als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert, und es war nicht das freundliche Exemplar von zuvor. Seine Latexhand fühlte sich an wie Schlangenhaut, und genauso aalglatt bewegte er sich auch – als hätte er keine Knochen, unheimlich.
„Na, dann lassen Sie mal sehen“, sagte er, ohne sich vorzustellen.
Der stahlblaue Blick durchleuchtete ihn wie ein Röntgengerät, vom Scheitel bis zur abgelaufenen Sohle.
„Schnittverletzung an der Hand und eine Kopfwunde, ja? Am besten, Sie legen sich erst mal hin.“ Etwas im Blick des Mediziners flackerte erwartungsvoll auf. Als er dazu wie ein Rausschmeißer die Fingerknöchel knacken ließ, stellten sich bei Herrn Rabel die Nackenhaare auf.
Die Augen fest geschlossen – wie seine Rollläden zu Hause –, wurde er auf die Untersuchungsliege geschoben, steif wie ein Tiefkühltruthahn.
Er fühlte, wie sein Ärmel ohne Vorankündigung nach oben glitt. Dann folgte ein schmerzhafter Stich.
„Au! Was tun Sie da?“ Tränen schossen ihm in die Augen, als das gleißende Licht aus der Stirnlampe des Arztes auf seine Netzhaut traf.
Er wollte nach Hause.
Erschrocken sah er dem Arzt zu, wie er die Spritze auf ein Tablett zurücklegte und fast liebevoll über die angetretenen Skalpelle, Nadeln und Pinzetten strich. Wollte er die alle benutzen? Grundgütiger …
Seine Lider wurden schwer.
„Was … die Spritze …“
„Keine Sorge.“ Die Stimme klang unpersönlich, fast, als käme sie von einem Band. „Sie werden nichts spüren.“
Als er versuchte, seine Glieder und Sinne aufzusammeln, die in sämtliche Himmelsrichtungen auseinanderzuschwimmen schienen … als er seine letzten Reserven mobilisieren wollte, um davonzulaufen, verzerrte sich das Gesicht des Arztes zu einer grinsenden Fratze.
Da gab er auf. Ließ sich zurücksinken. Dachte an seinen Garten und die Tulpen, die gerade begannen, die Knospen zu öffnen. Fast dankbar empfing er die Dunkelheit, denn alles war besser als dieses festgenagelte Gefühl der Hilflosigkeit.
„Zunächst werde ich die Wunde an Ihrer Hand großflächig öffnen“, drang noch an sein Ohr. „Da kann sonstwas drinstecken, aber das sehe ich erst, wenn ich den Schnitt erweitert habe – dabei muss immer ein wenig gesundes Gewebe dran glauben, aber keine Panik, ich werde Sie hinterher schon wieder zusammenflicken. Und dann schauen wir noch nach ihrer Kopfverletzung – sieht ja echt böse aus …“

©K.Conrad 2012 – Vers.3

Letzte Aktualisierung: 22.04.2012 - 09.26 Uhr
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