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Der Psychopath | April 2012

Die Nacht des Schreckens
von Monika Heil

Er kannte die Gegend nicht und hatte komplett die Orientierung verloren. Verzweifelt irrte er durch das dichter werdende Unterholz. Sein Handy lag im Hotel, seine Armbanduhr auch. Es wurde dunkel und Günter Lederer hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Der bis vor kurzem noch herrliche Sonnentag hatte sich unmerklich verdüstert. Erst empfand er nur ein uneingestandenes Unbehagen, das sich dann jedoch zunehmend in Angst steigerte. Als er endlich ein schwaches Licht in der Ferne bemerkte, atmete er auf.
"Wie bei Hänsel und Gretel", schoss es ihm durch den Kopf, während er auf das tief im Wald versteckte Haus zuging.

Da er keine Klingel fand, klopfte er laut und beharrlich an die dunkle Holztür, die kurz darauf hastig geöffnet wurde. Eine Frau baute sich drohend vor ihm auf. Dabei füllte sie den Platz zwischen den Türrahmen fast vollständig aus. Ihre muskulösen Arme hätten eher zu einem Bauarbeiter, als zu einer Frau gepasst. Sie stemmte ihre schmutzstarrenden Pranken, die Günter an die schwieligen Hände seines Müllmannes zu Hause erinnerten, auf ihre ausladenden Hüften. Sie strahlte eine solche Aggression aus, dass er unwillkürlich einen Schritt zurück wich.

Alles an ihr war hässlich. Die Knöpfe ihres Kittels waren abgeplatzt. Speisereste in gelb und braun hatten abstrakte Motive auf dem Stoff hinterlassen. Ein kleiner schwarzer Käfer krabbelte ziellos über ihre viel zu enge Bluse und lenkte Günters Blick kurz in die falsche Richtung. Dann starrte er in das Gesicht der Frau. Die gelblich fahle Haut hatte offenbar lange keine Sonne gesehen. Aschgraue Haare fielen fettig und strähnig über ihre Wangen. Ehe er ein Wort sagen konnte, stieß sie zornig hervor:
"Endlich, du Schweinehund! Wo warst du so lange?"
Ihr gehässiger Blick traf ihn wie ein kalter Blitz.
"Mein Name ist Lederer, Günter Lederer", versuchte er mit ruhiger Stimme zu erklären. "Ich habe mich beim Pilze suchen ..."
Weiter kam er nicht. Mit einer Kraft, die er keiner Frau zugetraut hätte, packte sie ihn und zerrte ihn in das halbdunkle Haus. Er war so überrascht, dass er keinen Widerstand leistete. Dröhnend schlug die Tür hinter ihm zu.
"Das war das letzte Mal, dass du mich mit den Gören allein gelassen hast", keifte sie. Der rostig-raue Ton ihrer Stimme klang, als würde Schmirgelpapier über Holz gezogen.
"Ich kann mir denken, was du suchst, du Hurenbock." Sie stieß ein schrilles Lachen aus. Ihre Augen glitzerten. Günter Lederer wurde schlagartig klar, dass diese Verrückte ihn mit ihrem eigenen Mann verwechselte.

Mit eiserner Kraft stieß sie ihn vorwärts. Er war klein und schmächtig, nach dem langen Herumirren ohne Nahrung und Getränke fühlte er sich ausgelaugt und erschöpft. Die Frau war ihm körperlich überlegen. Er taumelte in einen dämmrigen Raum hinein.
"Setz dich!", herrschte sie ihn an.
Unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, ließ er sich auf einen heruntergekommenen Polsterstuhl fallen, dessen Armlehnen vor Dreck starrten. Die Reaktionen der Frau waren blitzschnell, so dass er zu keiner Gegenwehr fähig war. Überrascht blickte er auf den Klappriegel, den sie über beiden Lehnen verankert hatte und der ihm das Aufstehen unmöglich machte. Zusätzlich spannte sie ein breites Metallband über seinen Brustkorb. Als es seitlich einrastete, erklang ein heller Klick-Ton, der sich auf seine Nerven übertrug. An die hohe Rückenlehne gepresst, wurde ihm mit Entsetzen bewusst, dass er gefangen war. Gefangen von einer Geisteskranken! Angst verseuchte die Luft. Sein Herz raste und die Finger zitterten vor Aufregung. Er versuchte mit aller ihm verbliebenen Kraft, sich zu befreien. Vergeblich. Das Möbelstück war fest mit dem Boden verschraubt. Es gab kein Entrinnen. Die Reaktionen dieses Weibes schienen unberechenbar. Der Adrenalinschub wich einer unglaublichen Erschöpfung.
"Nun bleib mal schön sitzen, du altes Schwein. Ich hole dir dein Bier." Sie streichelte mit schmierigen Fingern über sein Gesicht. Angeekelt versuchte er, den Kopf abzuwenden.
"Ah, der Herr ist schlecht aufgelegt."
Erneut lachte sie schrill und verließ mit wiegenden Hüften das Zimmer.

Panisch blickte sich Günter um. Der Raum war nicht groß und fast quadratisch. Er starrte auf graue, fleckige Wände, deren Farbe abblätterte, als wollte sie ebenfalls aus dieser stinkenden Höhle fliehen. Es stank derart nach Urin und Fäkalien, dass es ihm fast die Luft abschnürte. Ihm wurde schlecht. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das schummrige Licht, das von einer verstaubten Glühbirne von der Decke rieselte und nur schwach einen kleinen Ausschnitt des Zimmers erhellte. An der rechten Wand entdeckte er zwei Gitterbetten. Der unerträgliche Gestank kam offenbar von dort. Das Bettzeug war genauso verdreckt wie alles hier. Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht allein war. Große glühende Kinderaugen starrten ihn aus einem der Betten an. Ein vielleicht drei- oder vierjähriger Junge kniete auf dem Kissen. Die Haut spannte über den fleischlosen Knochen, seine Haare waren dünn wie Spinnweben, verfilzt und struppig. Er streckte Günter Lederer seine schmalen Arme entgegen. Das Gitter hielt den dünnen Körper aufrecht. Das Kind versuchte offenbar zu sprechen. Es brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Entsetzt wandte Günter den Blick ab. Da sah er das Mädchen. Sein Alter war kaum zu schätzen. Die Gestalt wirkte zart wie die eines Kindes und zeigte den Gesichtsausdruck einer grenzenlos traurigen reifen Frau. Sie versuchte, einen Schritt auf ihn zuzugehen, was ihr deutlich schwer fiel. Vor Anstrengung zitternd, ließ sie sich auf den mit Abfall übersäten Boden fallen und krümmte sich zusammen.
"Mutte, Mutte..."

Was wollte sie ihm sagen? Sein Entsetzen forderte ihn auf zu handeln. Er musste diesen Riegel lösen! Seine Finger krallten sich um das Metall. Mit aller Kraft zerrte er an der Stange. Vergeblich.

Der Junge im Gitterbett kreischte ebenfalls:
"Mutt, Mutt!" Das Mädchen wiegte sich am Boden hin und her und fiel eintönig "Mutte, Mutte!" rufend, ein. Wollten sie ihre Mutter rufen? Die Wortfetzen gingen in klagendes Wimmern über. Günter glaubte, diese entsetzliche Szene nicht länger ertragen zu können und stemmte sich wieder und wieder gegen den Riegel. Wie konnte er es schaffen, sich zu befreien und aus diesem Haus voller Wahnsinniger zu fliehen?

Die Frau mit dem schmutzigen Kittel kam zurück. In der Hand hielt sie eine Flasche Bier.
"Hier, sauf! Dann können wir reden.“ Grob stieß sie ihm die Flasche in die Hand. In ihrem Blick paarte sich Feindseligkeit mit grenzenloser Selbstgefälligkeit.
Der zweistimmige Chor verstummte abrupt. Gespenstige Stille folgte. Die Kinder beobachteten mit weit aufgerissenen Augen den fremden Mann.
"Hören Sie", versuchte Lederer erneut mit der Frau zu sprechen.
"Sei still, du Scheißer! Sauf und sag mir, wo du warst. Ich will nicht, dass du zu anderen Weibern gehst. Hast du noch nicht genug Bälger in die Welt gesetzt? Reichen die beiden nicht?", zeterte sie. Offenbar dachte sie noch immer, er sei ihr Mann. Günter Lederer konzentrierte sich auf seine Atmung. Er versuchte, das kribbelnde Gefühl auf seiner Haut zu ignorieren, denn der Schweiß fühlte sich an, als krabbelten Insekten über seinen Rücken. Seine Gedanken rasten wie Stromstöße durch seinen Kopf. Diese Frau war eindeutig krank. Er war einer Irren machtlos ausgeliefert. Was konnte er tun? Gern hätte er einen Schluck getrunken, um seine Nerven zu beruhigen. Es ging nicht. Er konnte seinen Kopf nicht genügend senken und den Arm nicht heben. Er versuchte, das Zittern der Muskeln zu beherrschen. Die Bierflasche fiel ihm aus der Hand und rollte ein paar Zentimeter über den schmierigen Boden. Weißer Schaum gurgelte heraus und tränkte ein zerknülltes Papier. Die Frau bückte sich ächzend und drückte ihm die Flasche erneut zwischen seine verkrampften Finger. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie lächelte. Doch Günter ließ sich nicht täuschen. Das war kein freundliches Lächeln. Er registrierte Hinterlist in ihren Augen. Wie hypnotisiert hielt er ihren Blick fest.
"Nun red schon. War wohl aufregend, was? Komm, zeig mal, was du mit ihr gemacht hast." Sie fingerte mit listigem Grinsen einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Riegel. Atemlos starrte Günter auf ihre Hände. Seine Knie zitterten, als er aufstand. Erneut griff sie seinen Arm, diesmal sanfter. Steif wie eine Holzpuppe stand er auf. Ihm wurde schwindelig. Sie bellte ein heiseres Lachen, das Günter Lederer vage an einen Wolf erinnerte. Die Frau zog ihn zur Tür, hinter der er das Schlafzimmer vermutete. Seine Gedanken überschlugen sich, als er ihr wankend folgte.
Das Gekreisch der Kinder setzte wieder ein, schwoll an und explodierte in seinem Kopf. Er wusste sich nicht anders zu helfen. Mit einem hässlichen Klirr zerbrach die Bierflasche auf dem Kopf der Frau. Jeglicher Ton erstarb im Raum. Günter Lederer drehte sich um und rannte zu der anderen Tür. Er stolperte über die am Boden liegende Gestalt, unfähig, sich um eines der Kinder zu kümmern. Weg, bloß weg! hämmerte es in seinem Kopf.

Draußen war inzwischen finstere Nacht.

3. Version

Letzte Aktualisierung: 22.04.2012 - 11.51 Uhr
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