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Der Psychopath | April 2012

Eines Tages Ende
von Jürgen Knappe

Endlich war der Winter vorbei. Noch fehlte das satte Grün des Frühlings. Nur hier und da lugten seine Vorboten unter dem welken Laub hervor. Die Äste waren noch nackt, die Äcker kahl, aber die Sonne wärmte schon den Brutofen des neuen Jahres.
Für Heinrich war es jedes Mal eine schreckliche Zeit. Er konnte das Miteinander von Vergehen und Wachstum einfach nicht ertragen, und so stand er jeden Tag in seinem Garten und fegte die elenden Blätter zusammen, die der Wind herbei trug, und ärgerte sich über die widerliche Unordnung, derer er nicht Herr werden konnte.
Dieses Jahr war es schlimm. Der Regen blieb aus, und Erde wurde zu Staub.
Ein grauer Schmutzfilm legte sich auf alle Gegenstände.
Wie gut, dass er Zeit hatte. Rentner haben nie Zeit, lachte Heinrich grimmig, wenn die Rede darauf kam, denn er kannte seine Pflichten.
Und so wusch er alles sauber. Und wirklich war er von früh bis spät voller Betriebsamkeit, um alles in Ordnung zu halten. Schon länger war er alleine. Die Kinder lebten ganz woanders und meldeten sich nur zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten. Telefonisch, der Entfernung wegen.
Die Leidensgeschichte seiner Frau dauerte Jahre. Ein Krebs, der sich Zeit ließ. Immer wieder Hoffnung, aber irgendwann wussten die Ärzte nicht mehr weiter. Eines Tages war sie nicht mehr da. Ein Sanatorium, das neue Heilmethoden praktiziere, so erklärte er denen, die nach ihr fragten. Zu weit weg, um sie zu besuchen. Heinrich erkannte die Neugier unter ihrer Anteilnahme, und verabscheute sie dafür. Die Leute spürten das, und hörten irgendwann auf, nach ihr zu fragen.
Nein, er hatte nicht viele Freunde. Arbeitskollegen, aber mit der Rente hat man sich dann aus den Augen verloren. Was soll man machen, zuckte er mit den Schultern, mir wird auch so nicht langweilig.
Und tatsächlich waren seine Tage genau eingeteilt in die verschiedenen Tätigkeiten, die zum Leben gehörten. Wenn man ihn fragte, was er am Freitag Morgen vorhatte, so wusste er das bereits am Montag. Weil es das Gleiche war, das er letzten Freitag schon gemacht hatte und was er mit dem Gleichmut eines Uhrwerks an sämtlichen kommenden Freitagen zu machen nicht anders im Sinn hatte.
Sein Leben barg keine Überraschungen. Früher, ja, da war er jung gewesen, da wollte er die ganze Welt erobern. Und wer ihn bei diesen Worten ansah, bemerkte ein Blitzen in seinen Augen, einen Lebensfunken, der so gar nicht mehr zu dem Menschen passen wollte, der da vor einem stand.
Und gerade so schnell war es dann auch vorbei mit dem Erobern. Arbeit und Familie, zack auf zack, eingetütet und erledigt. Stempel drauf und ab in die Schublade.
Was hatte er auch für eine Wahl? Kriegskind, Kindheit ersatzlos gestrichen.
Was für Träume bleiben da noch? Einen Platz finden, ein Nest bauen. War da noch was?
Da stand er nun und fegte den Platz vor seinem Haus, und hielt den Kopf dabei gesenkt.
Im Laufe der Jahre war diese Arbeit zu einem Ritual der Präzision geworden, und nichts verschaffte ihm soviel Befriedigung wie das Wissen, dass jeder Schritt und jede Bewegung des Besens überlegt und exakt geführt wurde. Niemand konnte ihn dabei übertreffen, das wusste er, und bei dem Gedanken wie dumm und unbeholfen andere Menschen sich dabei anstellten, spielte ein Lächeln um seinen Mund. Dann war er fertig, und er hängte Besen und Schaufel an ihre Haken in der Geschirrhütte.
Der Vormittag ging zu Ende, es war an der Zeit, die täglichen Besorgungen zu erledigen. Die Jacke für die Werktage hing an ihrem Haken, der Hut durfte nicht fehlen. Die Stofftasche lag sauber gefaltet an ihrem Platz neben der Haustüre.
War es nicht wunderbar, wie viel Zeit und Energie er so sparte?
In Gedanken bestätigte er sich die Richtigkeit seiner Lebensführung. Was wäre das Leben ohne Ordnung? Als würde man sich ständig selbst ein Bein stellen.
Eine Einkaufsliste brauchte er nicht. Er besorgte stets die gleichen Sachen, die nie ausgingen, denn er kaufte immer auf Vorrat.
Obwohl er jeden Tag einkaufen ging, konnte er doch nie frisches Brot essen, denn er hatte stets für zwei Tage genug zuhause.
Die Frau in dem Lebensmittelladen kannte Heinrich seit sie vor dreißig Jahren in den kleinen Ort gezogen war. Lange Zeit leitete sie das Geschäft zusammen mit ihrem Mann, und als der starb – leider viel zu früh, so sagten alle die ihn kannten - führte sie den Laden alleine weiter.
Als es im Dorf bekannt wurde dass der Heinrich nun ohne Frau lebte, blühte sie ein wenig auf. Eine kleine Hoffnung keimte, und sie bemühte sich, seine Einkäufe mit Sorgfalt und besonderer Freundlichkeit zu verschönern.
Allein, Heinrich war ihrem sanften Werben nicht zugänglich, ihre Fragen nach seinem Wohlergehen beantwortete er stets höflich, und stets ohne Gegenfrage.
Wozu auch, so dachte er und ahnte ihre Absichten, was brauche ich noch eine Frau.
Mit der Zeit gab sie es auf, gegen diese Bastion der Gleichgültigkeit anzurennen, und beide einigten sich stillschweigend darauf, nicht mehr daran zu denken, dass es eine gemeinsame Möglichkeit gegeben hatte.
So konnte Heinrich wieder seine Einkäufe erledigen, ohne auf der Hut sein zu müssen, und die Frau wandte ihr Interesse anderen Dingen und Menschen zu.
Mit Stolz sagte sie von sich, die Leute besser zu kennen als der Herr Pfarrer, und wer es gut mit ihr verstand, konnte sicher sein, Bescheid zu wissen, wenn wieder irgendeiner etwas tat, was besser ungeschehen geblieben wäre.
Als sie merkte, dass Heinrich sich auch keinen anderen Frauen zuwandte, empfand sie irgendwann Mitleid für ihn. So ein ordentlicher Mann, sagte sie, und ist doch ganz alleine, und so packte sie gelegentlich ein Extrastückchen Pastete für ihn ein.
Dies duldete er, und empfand es als Zeichen der Anerkennung.

An diesem Tag jedoch war es anders.
Mag sein, dass sie die Unruhe des beginnenden Frühlings an ihm bemerkte und falsch deutete, mag sein dass sie selbst spürte, endlich etwas verändern zu wollen.
An diesem Tag fasste sie sich ein Herz, und als Heinrich gerade die Stofftasche mit den Einkäufen füllte, fragte sie ihn, ob sie nicht einmal zu einem Sonntagskaffee vorbei kommen könne, gerne auch mit dem Herrn Pfarrer, der schon des öfteren den Wunsch geäußert hätte, den Heinrich einmal zu besuchen.
Heinrich erstarrte, und statt einer Antwort schluckte er und schüttelte den Kopf.
Er packte die Tasche schneller, und sie wusste, dass es gleich zu spät sein würde.
„Schau, Heinrich“ sagte sie, „wie lange willst du denn noch so weitermachen?“
„Womit weitermachen, Martha?“ knurrte er, „und was geht es dich überhaupt an?“
Drehte sich um und ging zur Türe.
„Die Leute reden schon,“ rief sie hinter ihm her, „das geht so doch nicht weiter!“
Da war er schon zur Türe hinaus, und wie Messerstiche brannten ihre letzten Worte in seinem Kopf. „Sie weiß es“ , wiederholte er immer wieder, während er den Hügel zu seinem kleinen Haus hinauf stürmte, so schnell es sein Alter erlaubte.
Schwer atmend erreichte er die Haustüre, und fischte den Schlüssel aus seiner Jacke. Mit zitternden Händen öffnete er die Türe, warf sie hinter sich ins Schloss und ließ die Einkaufstasche achtlos fallen. Seine Jacke fiel zu Boden, und mit Mühe erreichte er einen Sessel. Sank hinein und presste die Hände gegen seine Augen.
Lange Zeit blieb er so sitzen, bis es plötzlich an der Türe klingelte. Er schreckte auf und hörte Marthas Stimme vor seinem Haus. Sie rief seinen Namen, und da war ihm klar, dass es vorbei war.
Langsam erhob er sich, ging zu dem Buffet im Wohnzimmer, zog die Schublade auf und nahm eine Pistole heraus. Dann ging er ins Schlafzimmer, in dem das schöne Doppelbett mit den Schnitzereien stand, das seine Frau so geliebt hatte. Vorsichtig legte er sich auf seine Seite des Bettes, und flüsterte „ sie ist gekommen um uns zu trennen.“ Der verweste Leichnam, der einst seine Frau gewesen war, gab keine Antwort.


Version 2

Letzte Aktualisierung: 21.04.2012 - 09.22 Uhr
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