Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Rivalität | Mai 2012
Frieda brütet
von Helga Rougui

An diesen Tagen, in diesen Nächten machten alle, ausnahmslos alle einen großen Bogen um sie.

Siegfried, an sich Herrscher aller Hühner, war nach vollzogener Pflicht bis zum nächsten Einsatz Zeugungstäter im Wartemodus und ab nun nur noch potentieller Störenfried des Nachwuchsausformungsvorgangs. Er verbrachte die meiste Zeit hinten im Garten, um zu tun, was ein Mann in seiner Situation zu tun hatte. Kratzen, Krähen, König sein.
Und ihr aus den Augen zu gehen, möglichst umfassend.
Anais, Berta, Chloe, Doris, Edwinna und Gundi, ihre allerbesten Freundinnen im Harem, hyperventilierten nervös ohne Unterlaß und bewegten sich nur in Zeitlupe unter extrem leisem Gackern um die Stelle, die sich Frieda jeweils für ihr Nest erwählt hatte.
Dort saß sie breitfedrig und aufgeplustert, um nahezu bewegungslos zu verharren und aus runden, kleinen, stets erstaunt blickenden Augen Gedankenlöcher in die Luft zu starren. Ab und an ging ein Ruck durch ihren Kopf, ihren Oberkörper, sie drehte den Hals nach rechts, nach links, sich der Ruhe und des Friedens um sich herum versichernd. Die anderen bildeten einen unsichtbaren Kreis um sie, den sie beherrschte und der sie schützte. Nur wenige Lebewesen gab es, die die Bannmeile durchbrechen mochten, ohne Schaden zu nehmen.

Friedas Blick fiel angelegentlich auf zwei Regenwürmer, die sich angeregt durch den seit Tagen anhaltenden Nieselregen aus der feuchten, weichen Erde gequält hatten und nun einen Wettlauf gegeneinander hinlegten, daß die Matschpartikel nur so spritzten. Das Ziel dieses Wettlaufs blieb ein Geheimnis, tief versteckt in ihren winzigen Regenwürmergehirnen, in die außer diesem einen Gedanken, nämlich dem, ebendort anzukommen, nicht mehr viel anderes hineinpaßte.
Frieda fühlte sich den Würmern seelenverwandt, jedoch nur in diesen seltsam entrückten, gleichsam schwerelosen Momenten ihrer selbst bestimmten Brutzeit, in der sie körperlich wie gelähmt ihre Gedanken paradoxerweise auf ihren persönlichen Wettlauf richtete, den Wettlauf gegen die Zeit, der für sie in einem reinen Aussitzen der Lage bestand, und ihr Ziel füllte ihren Kopf, nämlich lange genug Geduld und Sitzfleisch aufzubringen, bis ihr Werk vollendet war.

Ihre Freundinnen riskierten einen Blick in ihre Richtung, sahen, wie die Regenwürmer an ihr vorbeieilten, und dachten dies und das. Bewunderung und Unverständnis hielten sich die Waage. Man traute sich aber auch nicht, sich der saftigen, doch momentan sakrosankt scheinenden Exemplare zu bemächtigen, da Frieda überaus zickig werden konnte, wenn man, sei es auch nur per Zufall, in ihren Dunstkreis hineingeriet. Das letzte dumme Huhn, das sich ihr nicht einmal aus bösem Willen, sondern aus purer gefräßiger Unachtsamkeit genähert hatte, um sich in einer ähnlichen Situation schadlos zu halten, lief noch heute mit beträchtlichen Kahlschlägen im Gefieder herum und war der höfischen Umwelt eine Lehre.

Fakt war, daß Frieda eine eigenartige Faszination auf sämtliches wimmelnde, sich windende Getier ausübte, wenn sie in diesen komatösen Zustand geriet. Dann und nur dann waren diese bodennahen Wesen in absoluter Sicherheit, vor Frieda sowieso, die über ihnen thronte wie eine wenn auch unfreiwillige Schutzgöttin und das, was sonst ihre Leibspeise darstellte, lediglich auf einer appetitfreien Metaebene wahrnahm, sowie eben auch vor all den anderen, die sich nicht in Friedas Nähe trauten, all ihrer Gier zum Trotz.

Und so herrschte um die gemächliche Brüterin herum ein reges Kriechen und Krauchen, während sie wie abwesend und ohne sich zu rühren alle Wärme, die sie in sich versammeln konnte, ihrem Unterboden entgegenleitete, auf daß diese Wärme Gutes bewirke und Leben erschaffe und entwickele und vollende.

Aus diesem Zustand konnten Frieda eigentlich nur zwei Dinge teils kurz-, teils längerfristig erlösen.
Einmal war das der imperiale Ruf zur Nahrungsaufnahme morgens und abends; für wenige Minuten verließ sie ihre oberflächlich mit einigem leicht darübergeschobenem Stroh bedeckte Wirkungsstätte, aß und trank hastig, ohne etwas zu schmecken, um sich unverzüglich wieder an die ihr vom Schicksal und sich selbst zugewiesene Stelle zu verfügen.
Zum anderen war das natürlich der Endpunkt des Vorganges selbst, der sich nach etwa drei Wochen immer gleich, nämlich durch ein dumpfes Rumoren und spitze, abgehackte Geräusche unter ihr ankündigte.

Dann erhob sich Frieda etwas steifbeinig, jedoch durch und durch majestätisch, trat beiseite und gab den Blick auf ihr Gelege endgültig frei, zahlreiche unter den mistverklebten Stellen strahlendweiße Eier kamen zum Vorschein, in deren Außenhüllen sich bereits die ersten erfolgreich gepickten Dellen und Bruchlinien abzeichneten.

Und nun zum Abschluß der Aktion begann der Wettlauf des Friedaschen Nachwuchses untereinander, die Küken rangen verbissen mit den Schalen, jedes wollte das erste sein, sie abzustreifen, bedeutete das doch den Platz genau hinter der Glucke plus die wärmste Zuwendung plus die fettesten Regenwürmer plus die größte Sicherheit.
In dem Maße, wie die Küken sich freikämpften, zogen sich die Würmer eilig zurück, wobei, wer zu spät ging, den bestrafte das Leben derart, daß er dem Siegerküken als allererster Frühstückswurm zu dienen hatte, eine zweifelhafte Ehre, auf die keiner der nun wieder vom Studienobjekt zum Nahrungskettenglied Degradierten so recht Wert legte.

Nach einer Weile war es dann soweit, Frieda stolzierte an der Spitze ihrer frischgeschlüpften, fast getrockneten Nachkommen quer über den Hühnerhof, eingebildet wie der Obergockel persönlich, der sich inzwischen zurück aus den Untiefen der hinteren Gärten in den vorderen Bereich zurückgemeldet hatte, auch die Freundinnen umringten sie jetzt, ihrer durch allgemeine Erleichterung gestützten Bewunderung durch lautes Gackern Ausdruck verleihend.

Frieda war hochzufrieden, hatte ihre Bestimmung erfüllt und konnte sich der Position der Lieblingsfrau im Harem ihres Gockels sicher sein.

Und wodurch?

Durch die Erzeugung einiger quietschegelber kleiner Federbällchen.
Aus denen Hähne werden, oder Hühner.
Oder Brathähnchen beziehungsweise Suppenhühner.

Kinder sind unsere Zukunft, auch wenn sie irgendwann aufgefressen werden.
Was sie mit den Eltern gemeinsam haben.

Denn wer macht am Ende das Rennen?
Die Würmer.

Letzte Aktualisierung: 16.05.2012 - 00.16 Uhr
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