Diese Seite jetzt drucken!

Rivalität | Mai 2012

Krieg im Wortesaal
von Hajo Nitschke

'Aktuell mit LL' vom 01.05.2012

„… und Reporter vor Ort ist LL, unser Ludwig Liebetreu.“

(„Ja, auch von mir guten Abend. Schön, dass Sie sich wieder für 'Aktuell mit LL' entschieden haben. Ich befinde mich hier im großen Konferenzsaal des Hilton. Die Debatte über den Stellenwert moderner Sprache in der Literatur hat heute am zweiten Tag des Symposiums eine überraschende Wende genommen. Doch lassen Sie mich die Pause zu einer kurzen Zusammenfassung nutzen, falls Sie sich erst jetzt eingeschaltet haben.

Die erotische Geschichte ist eine unendliche Geschichte. Sie lebt davon, dass 'das Kind' bei Namen genannt wird, mehr oder weniger, und zwar jedes. Über die Namen aber sind schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten entstanden, ausgelöst von einer Gruppe Freier Radikaler. Ausgebrochen aus einer solchen Geschichte, werben sie für eine neue Rangordnung der Termini. Der erste Tag der von ihnen einberufenen Konferenz endete gestern allerdings mit einem Eklat: Von schweren Tumulten und Tätlichkeiten überschattet, zeigte sich eine extreme Uneinigkeit über die Taktik gegen Feinde der neuen Ordnung. Alles Nähere ist in dem Artikel meines Kollegen Elmar Aweiawa, „Die Konferenz“, nachzulesen.

Vor knapp einer Stunde kam es nun zu einer faustdicken Überraschung. Es haben sich ungeladene Gäste Zutritt in den Saal verschafft und Redezeit beantragt. Dabei handelt es sich um Liebe, Sehnsucht und Vertrauen. Die Große Vulva ließ daraufhin abstimmen mit dem Ergebnis, dass sich eine knappe Mehrheit für die Teilnahme der Neuankömmlinge aussprach. Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sind live dabei ...

Neben mir steht Sehnsucht. Sagen Sie bitte, was erwartet uns gleich, Sehnsucht?“)

„Nun, wir hoffen heute auf den Durchbruch, um den wir seit langem kämpfen. Wir wollen endlich Anerkennung und Gleichberechtigung. Schauen Sie sich doch nur um, mit wem wir es hier zu tun haben. Die Flut von ekligen Vokabeln und schäbigen, ja primitiven Idiomen hat überhandgenommen, auch im virtuellen Netz. In was für einer Welt leben wir, wenn Ausdrücke wie Möse, Schwanz oder Fotze samt ihrer ganzen unheiligen Entourage salonfähig werden und man uns verdrängt oder vergisst?“

„Meine Freundin hat ganz recht, Herr Liebetreu. In! Was! Für! Einer! Welt! Aber schaffen diese abstoßenden Formulierungen eine neue Welt oder sind sie im Gegenteil nur deren Sprachrohr? Ich denke, Liebe wird dazu etwas Wichtiges zu sagen haben. Sie ist übrigens nicht ganz unserer Meinung, was den Abscheu vor solchen Widerlingen betrifft. Liebe meint, sie sei nicht prüde und eigentlich seien wir alle eine Familie, die zusammengehöre. Aber heute wird sie sicher ein Machtwort sprechen, denn so kann es nicht weitergehen.“

(„Das war übrigens Vertrauen, liebe Hörer. Ich begrüße jetzt die Veranstalterin, die sich soeben zu uns gesellt hat. Darf ich Sie um ein Statement für unsere Hörer bitten, Große Vulva?“)

„Sehen Sie, hier ist ein kleiner Krieg im Gange. Wir haben gestern erlebt, wie die Emotionen schon in den eigenen Reihen hohe Wogen schlugen. Jetzt aber erwarte ich eine einmütige Absage an alte Zöpfe. Die moderne Sprache hat hierfür keine Verwendung mehr. Dem Volk aufs Maul schauen statt Schöngeisterei, darum geht es.“

(„Und Sie meinen …? Aber könnte nicht das Volk IHRER Sprache aufs Maul geschaut haben? Ist Ihnen die meinungsbildende Funktion Ihrer Hardcoresprache bewusst?“)

„Zum Teil ist das richtig, und darauf sind wir stolz. Sagen Sie selbst, was kann man mit Wörtern anfangen wie Zuneigung, Zärtlichkeit, Wärme, kosen, verehren, vergöttern, zu Füßen liegen, aufopfern bla bla? Nein, diese Zeiten sind vorbei und wir Radikalen dominieren die Literatur und damit die Sprache. Sehen Sie dagegen diese erbärmliche Minderheit fundamentalistischer Vokabeln. Eigentlich haben diese Typen als unsere schärfsten Rivalen hier nichts zu suchen, sie waren auch nicht eingeladen. Wörter wie Liebe oder Sehnsucht: Pah!! Wir werden diese altfränkischen Gesellen mit unseren Argumenten aus dem Saal fegen.“

(„Warum sind Sie so feindselig gegen das Konservative?“)

„Diese Außenseiter haben sich aus irgendeiner sehr betagten, altbackenen Erotikgeschichte geschlichen, einem alten Roman von früher, einer verstaubten Novelle, was immer Sie wollen. Unser Symposium rekrutiert sich dagegen aus den Mitgliedern der zeitgemäßen Sprache. Wir werden um die Vorherrschaft der Begriffe streiten und gewinnen.“

(„Danke für den Kommentar, aber ich sehe, Sie blicken auf die Uhr. Offenbar ist die Pause beendet. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.“)

„Meine Damen und Herren, verehrte Freunde, begrüßen Sie mit mir ...

Buh-Rufe aus dem Plenum

... die außerplanmäßige Rednerin ...“

Zischlaute und „Raus“-Rufe

(„Liebe Hörer, die Große Vulva kündigt soeben Liebe an, und Sie hören selbst, wie man im Saal reagiert.“)

„Ruhe, liebe Freunde. Ich darf an den Mehrheitsbeschluss erinnern und erteile hiermit Liebe das Wort.“

Stille im Saal.

Liebe schweigt.


(„Die Spannung steigt. Sie werden jetzt die ungekürzte Rede Liebes hören ...“)

Liebe schweigt. Unruhe im Saal.

(„Was Sie hören, ist Getuschel aus diversen erogenen Zonen. Und da springen Anilingus und Cunnilingus wütend auf, auch Tittenfick geht auf das Podium zu. Wird die Rede jetzt beginnen?“)

Liebe schweigt. Pfiffe von der Seite.

(„Verehrte Hörer, die Pfiffe kommen von Cum-Shot und Fisting. Wenn Liebe jetzt nicht endlich ...“)

Liebe schweigt.

(„Liebe Hörer, hier liegt kein Übertragungsdefekt vor. Die Rednerin sagt noch immer kein Wort. Schaut das Auditorium nur an und lächelt. Wahrhaftig, Liebe lächelt: freundlich, irgendwie verstehend, wie mir scheint. Aber was ist das!? Ein Wurfgeschoss! In diesem Moment ist ein Ei auf ihrer Stirn zerplatzt. Alter Sack hat es aus einer Sackschaufel entnommen und auf die Verhasste geschleudert. Doch sie zuckt mit keiner Wimper, obwohl sie Schmerzen haben muss. Wo bleiben die Saalordner?“)

Liebe schweigt noch immer.

(„Da! Ein aufgebrachtes Häuflein hat sich vor dem Rednerpult aufgebaut. Es sind unter anderem Vögeln, Blasen, Russisch und Asiasex. Sie spucken Liebe an, Quickie und Gangbang machen höhnische Fratzen. Und da! Eine Ohrfeige von Deep Throat. Da muss doch jemand eingreifen!“)

Liebe schweigt.

(„Was um alles in der Welt will sie noch ertragen? Und jetzt – ich schäme mich, Ihnen dies berichten zu müssen – jetzt tanzt Geilheit mit entblößtem Penis um Liebe herum, während Sadomaso und Fesselsex ihr gar in die Kniekehlen treten. Unbegreiflich! Wie erträgt sie das alles? Beinahe sieht es aus, als verzeihe sie das auch noch.“)

Stille im Saal.

Immer noch

Stille.

STILLE


(„Liebe Hörerinnen und Hörer, wieder kein Fehler der Technik. Die Radikalen sind verstummt, die Angreifer haben sich zurückgezogen, es herrscht betretenes Schweigen im Saal. Ich sehe viele nachdenkliche Gesichter. Vereinzelt Tränen. Sie alle kommen mir plötzlich vor wie Kinder. Viele. Aber wenn man genau hinsieht, sind die Meisten ganz in Ordnung. Einige mögen mehr oder weniger missraten sein, aber gerade sie schämen sich jetzt offensichtlich am meisten. Man sieht es an ihrer gebeugten Haltung und der schuldbewussten Miene. Sie schauen sich kopfschüttelnd und nachdenklich an, als erwachten sie aus einem bösen Traum. Das Schweigen der Referentin hat sie sichtbar erschüttert. Sie haben scharfen Angriff und aggressive Rhetorik erwartet. Mit Liebes Wehrlosigkeit hat niemand gerechnet, ich auch nicht. Aus jenen antiquierten Geschichten ist auch mir bekannt, dass Liebe nicht wehrlos ist, sondern stark. Aber jetzt zeigt sie sich schwach – und bringt gerade dadurch ihre Gegner zum Schweigen. Ich kann es mir nur damit erklären, dass diese eben nicht die erbärmlichen, charakterlosen Zeitgenossen sind ... Aber jetzt – Jetzt passiert etwas, liebe Hörerinnen und Hörer, wahrhaftig etwas Erschütterndes: Die Ersten erheben sich und treten mit gesenktem Blick auf Liebe zu, andere folgen, eine lange Prozession. Es sind dies Augenblicke, die betroffen machen. Welcher Umschwung! Liebe verneigt sich demütig vor jedem Einzelnen wie vor einem Gleichberechtigten und küsst ihn zum Abschied auf die Wange. Nie hätte ich mit einem solchen Ende gerechnet! Mir fehlen die Worte ...“

Stille

“Wir beenden die Sendung „Aktuell mit LL“. Die Ereignisse im Hilton werden uns jedoch weiterhin beschäftigen.“

***

Interner Schlussvermerk des Chefredakteurs vom 03.05.2012:
Im Anschluss an den Wettstreit der Worte buchte Liebe für sämtliche Konferenzteilnehmer die besten Zimmer im Hilton. Fürstlich untergebracht, wurden sie von Liebe wie ihresgleichen behandelt. Zwei Tage später traf ich sie heute Nachmittag in der Lounge. Es gelang mir, ihr endlich einige Worte zu entlocken.Sie hätte sie auch im Konferenzsaal anbringen können: Auf meine Frage, warum sie sich dort aufs Schweigen beschränkt habe und sich nicht von den Freien Radikalen distanzieren könne, betonte sie mehrfach nur diesen einen Satz: Es ist, was es ist.
Gezeichnet Erich Fried.



Version 3
@ Hajo Nitschke

Letzte Aktualisierung: 14.05.2012 - 16.02 Uhr
Dieser Text enthält 9169 Zeichen.


www.schreib-lust.de