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Rivalität | Mai 2012

Die vier Brüder
von Martina Bracke

Vor langer, langer Zeit gebar eine Mutter vier Söhne zur selben Zeit, die einander kaum glichen. Der Erstgeborene besaß dunkles Haar und die dunkelsten Augen, die man je gesehen hatte. Wenn er sich erregte, bebte sein gesamter Körper, so sehr er auch versuchte, sich zu beherrschen. Das Haar des zweiten Bruders strahlte hell und seine Augen schimmerten blau und unschuldig. Sie wechselten, wenn er sich freute, zu einem hübsch anzusehenden Smaragdgrün. War er schlecht gelaunt, trübten sie sich ein und Sturzbäche schienen ihnen zu entspringen. Der dritte Bruder leuchtete mit seinem flammendroten Haar weithin und aus seinen Augen sprühten Funken, wenn er in Wut geriet. Der letzte Bruder schien so blass, dass er oft übersehen wurde. Dann brauste er auf und fegte über alles hinweg und nur die Mutter konnte ihn wieder beruhigen.
Oft spielten sie friedlich miteinander und die Welt hielt ihr Gleichgewicht. Hin und wieder stritten sie, dann versuchte die Mutter zu schlichten. Wenn es nichts half, trennte sie die Brüder für eine Weile. Dadurch gab es eine Zeit, in der es so ruhig in der Welt schien, dass es die Mutter beinahe langweilte. Und mit einem Seufzer entließ sie ihre Kinder wieder aus der Einsamkeit, denn lange ertrug sie es selbst nicht.
Je älter die Brüder wurden, desto mehr Gefallen fanden sie daran, untereinander ihre Kräfte zu messen. Wer war der Größte, der Schnellste, der Beste unter ihnen? Aber da sie sich so sehr unterschieden, gewann mal der Eine und mal der Andere. Wenn sie aufeinander trafen, befand sich die Welt in großer Gefahr, weshalb die Mutter sie ihre Kräfte oft genug nur ein wenig ausspielen ließ, denn sie allein wusste um deren wahres Ausmaß.

Einmal gab es einen weisen Alten in einem Dorf nicht weit von hier, der nur ein einziges Kind hatte. Seine Frau war bei der Geburt gestorben und er hatte sich nie wieder vermählt. Daher achtete er sehr auf die Tochter, seinen Augapfel. Er nahm sie mit, wenn er Kräuter suchte. Er zeigte ihr die Magie der Ahnen. Er brachte ihr bei, die Mächte der Welt zu besänftigen oder ihre Hilfe zu erflehen. Und es kam die Zeit, in der sie allein gehen musste, weil er sich kaum mehr rühren konnte und nur vor dem Feuer der Hütte sehnsüchtig auf ihre Rückkehr wartete.
Die Tochter führte die Rituale durch, um die sie das Dorf gebeten hatte, denn die Ernte musste gut werden, damit alle durch den Winter kamen. Und so bat sie die Mächte um Wohlwollen, opferte wohlriechende Kräuter und tanzte die alten Schritte zu ihrer inneren Musik. Der blasse Bruder wurde auf sie aufmerksam, umschmeichelte sie mit warmer Luft und fuhr als Windhauch durch ihr Haar. Bis er ganz still blieb und sie einfach nur ansah, ihre geschmeidigen Bewegungen beobachtete, ihren gemurmelten Worten lauschte. Sie erschien ihm allerliebst und er gedachte schon, um sie zu freien.
Das entging nun nicht dem anderen Bruder, für den sie die Kräuter in Brand gesetzt hatte, um ihre Düfte freizusetzen. Interessiert züngelte er auf dem Opferstein, der auf zwei schmalen Felsblöcken wie ein Tisch ruhte. Er zischte und rauchte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Auch ihm gefiel sie ausnehmend gut und es ärgerte ihn, dass sein Bruder sie zuerst entdeckt hatte.
Wo zwei Brüder schon waren, konnte auch der nächste sich nicht fernhalten. Ihm fiel nichts anderes ein, als mit einem plötzlichen Regenschauer das Feuer zu löschen, um zu zeigen, dass er mitwerben wolle. Dabei überschüttete er das Mädchen mit einem Schwall, sodass ihre Haare nun schwer um den Kopf hingen und die Kleider am Körper klebten. Er ergötzte sich an ihrer Figur und bemerkte kaum, dass seine beiden Brüder erbost über die Einmischung waren, und die schönen Momente zerstört fanden.
Der Wind brauste auf, hielt dem in Regen fallenden Wasser einen Sturm entgegen, der die Tropfen beinahe waagerecht über die Ebene peitschte. Der Feuer-Bruder erhitzte sich ebenfalls und schleuderte Blitze durch die beginnende Nacht. Alle Drei stachelten sich so sehr an und versuchten, den anderen zu übertrumpfen, dass sie nicht mehr auf das Mädchen achteten, das unter dem Opfertisch Schutz vor den Gewalten gesucht hatte und von dort die alten Beschwörungsformeln sprach, die im Tosen des Windes, im peitschenden Regen und Blitz und Donner untergingen.
Lange blieb sie dort, doch die Brüder konnten sich nicht versöhnen. Immer neue Böen, Wassermassen und Feuerstrahlen tobten um den Stein, bis auch der erstgeborene Bruder auf das Getöse in diesem Teil der Welt aufmerksam wurde. Er versuchte herauszufinden, was seine Brüder trieben, und fragte jeden von ihnen, welchen Wettkampf sie austrugen. Doch sie konnten sich an den Beginn nicht mehr erinnern, in ihnen blieb nur eine unaussprechliche Wut, der sie nachgaben, und der Älteste konnte sie nicht beruhigen. Als er gerade daran dachte, die Mutter zu Hilfe zu holen, was ihm widerstrebte, entdeckte er das Mädchen unter dem Opfertisch. Trotz der Angst in ihren Augen, des vor Kälte zitternden Körpers und der triefnassen Haare sah er in ihr eine Lieblichkeit, die ihn für einen Moment das Treiben der Brüder vergessen ließ. Er wollte sich ihr nähern, als ein Blitz den Opfertisch traf und ihn entzwei brach. Die Teile stürzten nieder, erdrückten das Mädchen und zerquetschten ihren zarten Körper.
Der Älteste schrie so laut auf, dass seine Brüder sofort innehielten und zu ihm sahen. Doch er hatte nur Augen für das Mädchen, das tot unter den Trümmern lag. In seiner Trauer erzitterte er, dass weite Teile des Landes erschüttert wurden. Er bebte so stark, dass der Boden unter ihr aufriss und sie ganz in sich verschlang. Mit den Armen hielt er sie fest und schloss die Erdkruste über ihr wieder.
Mit den Brüdern wollte er nichts mehr zu tun haben, sie hatten das Lieblichste zerstört, was es auf der Welt gegeben hatte und auch die Mutter konnte ihn nicht mehr aus seiner Trauer reißen.
Noch heute hört man ihn manchmal grummeln und seufzen, dann vibriert der Boden, bricht an verschiedenen Stellen auf, reißt alles hinunter, was sich darauf befindet, und gibt es nicht mehr heraus.

© mb2012, 3. Version

Letzte Aktualisierung: 20.05.2012 - 18.58 Uhr
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