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Rivalität | Mai 2012

Picknick der Vergangenheit
von Klaus Peters

Es klingelte. Elly schlurfte zur Tür und öffnete. „Morgen, Frau Schmidt!“ Der Postbote drückte ihr einen großen Briefumschlag in die Hände. „Endlich mal kein Regen, wurde aber auch Zeit.“ „Schönen Tag noch.“ Elly blieb in der Tür stehen und sah ihm nach. Dann dachte sie wieder an den Brief. Sie sah ihn an und schüttelte unmerklich den Kopf. „Wer in drei Teufels Namen schreibt mir denn?“ murmelte sie, während sie zurück in ihre Wohnung ging. Sie legte ihn auf den Küchentisch und betrachtete den Umschlag genauer. Die Buchstaben, schwungvoll auf das Papier gesetzt, kamen ihr merkwürdig vertraut vor. Sie dachte nach. Plötzlich wusste sie es. Es war die Handschrift ihrer Tochter, die sie seit 30 Jahren nicht gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen. Doch es gab keinen Zweifel. Dieser Brief war von ihr. Ellys Herz begann zu hämmern. Was war drin? Mit zitternden Händen nahm sie ein Messer und öffnete ihn. Vorsichtig nahm sie den Inhalt heraus. Es waren zwei Dinge. Ein vergilbtes Foto, das eine junge Familie beim Picknick zeigte und ein Zettel. Hastig geschrieben, aber die Botschaft war eindeutig. Sie nahm den Zettel und starrte darauf. Ich hasse Dich! Von einer Sekunde zur nächsten war ihr schlecht. Ihre Beine zitterten ebenso wie ihre Hände. Sie musste sich setzen. Elly zwang sich das Foto anzusehen. Dieses Picknick und alle Dinge, die danach geschehen waren, hatten sich unauslöschlich für alle Zeiten in ihr Herz und ihre Seele gebrannt. Plötzlich war alles wieder da, so als sei es erst gestern gewesen. All das, was längst vergessen war bzw. vergessen sein sollte, stand auf einmal wieder machtvoll vor ihr. Die Stimme der Erinnerung in ihr flüsterte schadenfroh: „Hast wohl gedacht, du wärst mich los? Nix da, ich bin bei dir und ich bleibe bei dir, bis an dein verfluchtes seliges Ende!“ Elly traten die Tränen in die Augen. Sie dachte an diesen wunderschönen Sommertag, dachte an das Picknick, mit ihrem Mann und den Kindern. Alles hatte so schön begonnen. Und doch war danach nichts mehr wie vorher gewesen:
Sie waren im Gras gelegen. Der Picknickkorb war bis auf ein paar Weintrauben leer. Elly hatte sich wohlgefühlt und für einen Moment die Augen geschlossen. Sie hörte die Kinder Fangen spielen und laut kreischen. Sie holte tief Luft, öffnete die Augen und sah den Blick ihres Mannes auf sich ruhen. Er sprach sie an: „Elly, wir müssen reden“, sagte er. Sie lachte und erwiderte: „Ja Schatz, das müssen wir, ich habe dir etwas ganz Wichtiges zu sagen.“ Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, sprach er weiter. „Ich werde mich von euch trennen, von dir und den Kindern. Ich gehe nach Berlin.“ Plötzlich war seine Stimme heiser geworden und er räusperte sich. „Es gibt da eine Andere.“ Den letzten Satz stieß er schnell hervor und sah sie auch nicht mehr an. Elly war schwindlig. Sie glaubte, sich verhört zu haben. In ihren Ohren rauschte es. Aber die Worte waren überlaut in ihrem Kopf und schienen sich wie ein Echo fortzupflanzen. Für einen Moment glaubte sie in Ohnmacht zu fallen. Sie schüttelte ein paar Mal den Kopf, atmete tief ein und aus. Sie suchte den Blick ihres Mannes, der den Kindern beim Spielen zusah, ihnen zuwinkte und lachte. So als sei überhaupt nichts passiert. Der Rest des Tages war wie ein Stummfilm abgelaufen. Alles was sie tat, erlebte sie wie in einem Kino sitzend, sich selbst zuschauend. Der Film, den sie gesehen hatte, war ihr eigenes Leben gewesen. Sie hatten sich im Urlaub auf Kreta kennengelernt. Er hatte Fotos von einer Kirche gemacht, aus der sie gerade heraus gekommen war. Er hatte nicht auf sie geachtet und sie angerempelt. Sie war gestürzt, er hatte ihre Hand genommen, ihr auf die Füße geholfen und sich mit einem strahlenden Lächeln bei ihr entschuldigt. Bei ihr war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten geheiratet und als sie schwanger wurde, hatte sie ihm zuliebe ihr Architekturstudium abgebrochen und war zu Hause geblieben. Sie hatte auf so viele Dinge verzichtet, um für ihren Mann und die Kinder da zu sein. Jetzt war sie wieder schwanger, und er brachte mit diesem fast gelangweilt dahin gesagten Satz ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus zum Einsturz. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Unfähig, an etwas anderes zu denken, als immer nur an die Worte Ihres Mannes, die wie giftige Pfeile in ihrem Körper steckten, waren sie nach Hause gegangen. Sie hatte sich ins Bad eingeschlossen, ihren Tränen freien Lauf gelassen und sich ein Bad eingelassen. Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie wieder schwanger war. Das Picknick schien ihr der geeignete Rahmen zu sein. Stattdessen hatte er alles zunichte gemacht. Ihre Ehe, ihre Träume und Hoffnungen, ihr ganzes Leben. Nur, weil es da plötzlich eine andere Frau gab. Eine Rivalin, die sie nicht kannte, nicht einschätzen und nicht bekämpfen konnte. Als das Badewasser kalt zu werden begann, war auch ihr Herz immer kälter geworden. Schließlich war sie aus der Wanne gestiegen, hatte ihren Leib gestreichelt, in dem jetzt neues Leben wuchs und wusste plötzlich, was sie tun würde.
Später hatten Gerichtsmediziner festgestellt, dass sie insgesamt siebenunddreißig Mal auf ihren Ehemann eingestochen hatte, während er schlief. Die Anklage lautete auf heimtückischen Mord. Sie war zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Staatsanwalt hatte in seinem Schlussvortrag immer wieder gesagt: „Die Angeklagte handelte aus niederen Beweggründen. Ihr Mann hatte sich entschlossen, sich von ihr zu trennen und sich einer anderen Frau zugewandt. Diese sah die Angeklagte ganz offensichtlich als ihre Rivalin an. Da sie jedoch keine Möglichkeit hatte, an diese Rivalin heranzukommen, tötete sie ihren Mann, quasi stellvertretend für diese fremde Frau. Sie nahm dabei billigend in Kauf, dass sie selbst zum Zeitpunkt der Tat schwanger war und ihr Kind, zumindest nicht in Freiheit, würde zur Welt bringen können.“
Ihr Kind, auf das sie sich so gefreut hatte, verlor sie in der Zeit der Untersuchungshaft. Die beiden anderen Kinder, Clarissa und Beate, waren zunächst ins Heim und danach zu einer Pflegefamilie gekommen. Gericht und Jugendamt hatten ihr jeden Kontakt zu den Kindern verboten. In der Haft verhielt sie sich unauffällig, arbeitete in der Anstaltswäscherei und war nach elf Jahren entlassen worden. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das war vor mehr als zwanzig Jahren gewesen. Nach ihrer Entlassung hatte der zuständige Bewährungshelfer ihr diese kleine Wohnung vermittelt. Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen und lebte von Sozialhilfe. „Was soll´s!“, dachte sie manchmal, „Besser als ne Zelle von acht Quadratmetern im Knast ist es allemal.“ Von ihren Kindern hatte sie nichts mehr gehört bis sie irgendwann von ihrer ältesten Tochter Clarissa einen Brief bekommen hatte. Gott allein wusste, wie Clarissa Ellys Anschrift herausbekommen hatte. Jedenfalls schrieb Clarissa ausschließlich vom Tod ihres Vaters, wie sehr sie ihn vermisste und das sie Elly dafür hasste. Kein Wort der Vergebung oder Versöhnung. Dabei wünschte sie sich nichts mehr, als dass ihre Töchter ihr vergaben. Elly hatte tagelang mit sich gekämpft, ob sie antworten sollte. Schließlich ließ sie es bleiben und verbrannte den Brief.
Jetzt hielt sie das Foto und die Botschaft Clarissas in der Hand: Ich hasse Dich! Sie sah das Foto an und strich mit dem Zeigefinger darüber; berührte es leicht mit den Lippen. Elly stellte es auf die Fensterbank. Dort konnte sie, wann immer ihr danach war, einen Blick darauf werfen.
„Hass ist ein schlechter Ratgeber“, murmelte sie halblaut.
„Wer weiß das besser als ich...“

KP 2012

Letzte Aktualisierung: 18.05.2012 - 14.47 Uhr
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