Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Verzaubert | Juni 2012
Eine seltsame Begegnung
von Ingeborg Restat

Ein leichter Wind strich raschelnd durch das bunt gefärbte Laub der Bäume. Vögel huschten lautlos umher. Ein Bach neben dem Weg plätscherte von Stein zu Stein. Wie jeden Tag ging ich hier mit meinem kleinen Hund entlang. Ein Sonnenstrahl strich über sein braunes Fell, während er mit seinen kurzen Beinen schnüffelnd durch das bereits herabgefallene Laub lief. Ich knöpfte meine Jacke zu. Der Sommer war vorbei, es wurde kühl zum Abend.
Menschen kamen und gingen an mir vorüber. Zuerst fiel mir die zierliche alte Dame nicht auf, die mir entgegenkam. Doch dann: Warum lief sie mit so eigenartig tänzelnden Schritten? Auf ihren weißen Haaren thronte ein kleines rosafarbenes Gebilde mit großen Blumen. Welch seltsamer Hut? Am Arm trug sie eine alte braune Handtasche. Doch wieso hielt sie diesen riesigen Regenschirm so krampfhaft fest? Keine Wolke war am Himmel. Diese Frau hatte ich hier noch nie gesehen. Je näher sie mir kam, umso deutlicher hörte ich sie zu jedem Vorübergehenden sagen: „Schönen guten Tag! Ist das nicht ein herrlicher Tag?“ Ein Lächeln überzog dabei ihr faltiges Gesicht. Freundlich blickte sie ihnen hinterher, selbst wenn sie nicht bei ihr stehen blieben und ihr keine Antwort gaben. Das machte ihr wohl nichts aus, denn sofort danach begrüßte sie den Nächsten mit den gleichen Worten. Bald sah ich auch, dass sie keine Jacke anhatte, sondern nur eine dünne kurzärmelige Bluse, dazu einen grauen Rock und - ja, tatsächlich, leichte Hausschuhe an den Füßen.
Jetzt erkannte ich, sie musste zu den Menschen gehören, die im Alter jede Realität verloren. Ich fühlte mich unbehaglich, je näher sie kam. Wie geht man mit so einem Menschen um? Betont uninteressiert tat ich, als sähe ich sie nicht.
Doch sie kam lächelnd auf mich zu, zeigte mit hagerer Hand auf Benny, meinen Hund, und rief überschwänglich: „Nein, was für ein liebes kleines Hundchen, wirklich, so ein liebes Hundchen!“
Benny hörte die freundlichen Worte, sah ihren lächelnden Blick auf sich gerichtet und zog ihr sofort freudig mit dem Schwanz wedelnd entgegen. Ich hielt ihn noch mit der Leine zurück und gab mich distanziert. Doch das wahrzunehmen, hatte sie wohl längst verlernt. das gab es offensichtlich nicht in ihrer Traumwelt. Dort schien nur lächelnde Freundlichkeit zu herrschen. Mit leichten tänzelnden Schritten kam sie heran, beugte sich nieder, streichelte Benny und wiederholte dabei, als hätte eine Platte einen Sprung: „Was bist du für ein liebes kleines Hundchen, so ein liebes kleines Hundchen, wirklich ...“
Ich stand hilflos daneben, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wollte den Moment nicht verpassen weiterzugehen, sobald sie von dem Hund abließ. Doch als sie sich aufrichtete, griff sie nach meiner Hand, drückte sie und meinte: „Sie sind sicher ein glücklicher Mensch mit diesem kleinen Hundchen.“ Dabei sah sie mich aus ihren grauen, in viele Falten eingebetteten trüben Augen lächelnd an. Doch nahm sie mich überhaupt wahr? Es schien, als blicke sie durch mich hindurch, oder vielmehr, als wäre ihr Blick nach innen gerichtet. Schaute sie dabei vielleicht in eine Traumwelt, für die wir möglicherweise nur den Rahmen abgeben?
Mühsam entzog ich ihr meine Hand. Sie bemerkte es nicht. „Ist das nicht wirklich ein besonders schöner Tag heute?“, redete sie weiter.
Ich brachte nur ein höfliches „Ja“ heraus. Sie reagierte nicht darauf. Als hätte ich nichts gesagt, fuhr sie fort: „Ich gehe jeden Tag hier spazieren, das ist gesund, da bleibt man in Bewegung. Sie haben mich sicher schon mal gesehen. Ist dies nicht ein schöner Weg? Und nie ist schlechtes Wetter, wenn ich hier entlanggehe. Doch meinen Regenschirm habe ich immer dabei. Damit fühle ich mich sicherer. Man kann ja nie wissen, ob es nicht doch noch regnet, nicht wahr? Es kann ja nichts schaden, ihn dabeizuhaben, auch wenn die Sonne scheint.“
Wo kam sie her? Wurde sie vermisst? Müsste ich etwas unternehmen, um ihr zu helfen? Aber was? Sie zur Polizei bringen? Ob sie sich das gefallen ließe? Ich begann zu schwitzen, während sie unbesorgt weiterredete: „Wissen Sie, dass ich in einem Schloss wohne? Das glauben Sie nicht, nicht wahr? Aber es stimmt! Da oben am Berg in dem Schloss - Sie haben es sicher schon gesehen -, da bin ich zu Hause. Dort gibt es nur liebe Menschen. Alle kümmern sich um mich. Ich brauche nichts mehr zu tun, habe keine Sorgen ums Geld und bekomme zu essen, was ich nur will. Ist das nicht herrlich? Was habe ich damit für ein Glück! Alle sind lieb zu mir, so wie Sie.“
Wie ich? Ich tat doch nichts, wusste nichts zu sagen und dachte eigentlich nur: Wie komme ich hier weg? Sie aber hielt mich fest mit ihrem Reden.
„Wissen Sie, dass mir meine Tochter jeden Tag schreibt? Hier, warten Sie ...“ Sie kramte in ihrer Tasche, holte ein altes Brötchen heraus, eine lange Kette aus bunten Perlen und Kuvert um Kuvert. „Na, wo habe ich ihn denn?“, murmelte sie dabei vor sich hin. „Ach, da ist er ja!“, rief sie endlich glücklich aus und hielt mir ein Stück Papier hin. „Hier, sehen Sie, das ist der Brief, den ich erst gestern erhalten habe.“ Es war ein fleckiges und zerdrücktes, sichtlich altes Stück Papier, dem ein paar Ecken fehlten. „Da, lesen Sie! Meine Tochter findet immer so liebe Worte für mich“, drängte sie und sah mich erwartungsvoll an.
Etwas angewidert nahm ich das Blatt Papier in die Hand. „Liebste Mama“, las ich, „ich wünschte, es würde mir besser gehen, damit ich zu dir kommen könnte“. Dann war alles von Tränen, von Fett und Marmelade verschmiert. Unten sah ich noch den Gruß: ,,Ich denke an dich, in Liebe, deine Maria.“
Seltsam berührt gab ich ihr den Brief zurück. Jetzt sah ich in ihr nicht mehr eine wunderliche alte Frau, der ich am liebsten aus dem Weg gehen würde, sondern sie wurde für mich zu einem bedauernswerten Menschen.
„Sehen Sie, so lieb ist meine Tochter. Und wenn ich nach Hause komme, ist bestimmt ein neuer Brief von ihr da. Darauf warte ich jeden Tag. Ist es nicht schön, so ein liebes Kind zu haben?“
,,Sicher“, sagte ich, „sicher!“ Und es klang wohl nicht mehr so ablehnend. Eine mitleidige Zuneigung zu dieser Frau erfasste mich. Längst hatte sich Benny hingelegt, längst versuchte ich nicht mehr, ihn mit der Leine wieder auf seine Beine hoch zu ziehen, um jeden Moment weitergehen zu können. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte ich stattdessen.
„Danke!“ Sie lachte fröhlich. „Ich wusste, dass Sie ein lieber Mensch sind. Doch ich finde meinen Weg allein zurück, bestimmt! Ich bin ihn bereits oft gegangen. Warten Sie, wie war das? Ich brauche nur dort entlangzugehen, ja, sicher ... Ich will zu dem Schloss, wissen Sie? Sie kennen doch das Schloss? Man kann es ja nicht übersehen. Es ist so schön, in einem großen Park gelegen, das müssen sie ja kennen.“
Nein, ich kannte das Schloss nicht. Wo sollte hier ein Schloss stehen? Wie konnte ich ihr nur helfen?
Doch darüber brauchte ich nicht weiter nachzudenken.
„Da kommt Schwester Margit! Mit ihr kann ich zurückgehen“, rief sie überglücklich.
Und Schwester Margit kam mit eiligen Schritten heran. Einen Mantel trug sie über dem Arm. „Was machen Sie nur, Frau Hofer? Wie konnten Sie wieder einfach weggehen? Wir haben Sie überall gesucht“, erklärte sie ungehalten und zog der alten Frau umständlich mit verhaltenen ärgerlichen Bewegungen den Mantel an.
Lächelnd ließ Frau Hofer das über sich ergehen, als widerfahre ihr die größte Freundlichkeit. „Danke! Das ist lieb, dass Sie an meinen Mantel gedacht haben. Nur kalt war mir nicht. Wenn die Sonne scheint, kann es nicht kalt sein“, sagte sie.
„Ja, Frau Hofer, aber es ist besser so!“, antwortete Schwester Margit unwirsch und warf mir einen bezeichnenden Blick zu.
Doch die alte Frau merkte nichts davon. „Sehen Sie nur, was für einen lieben Menschen ich kennengelernt habe“, sagte sie und wies auf mich. „Sie hat den letzten Brief meiner Tochter gelesen. Sie war auch sehr beeindruckt davon, was für ein liebes Kind ich habe. Ist zu Hause schon der nächste Brief angekommen?“.
„Ja, ja“, antwortete Schwester Margit ungeduldig mit einem Blick zum Himmel. „Nun kommen Sie schon!“ Und während sich Frau Hofer noch einmal zu meinem Hund hinunterneigte und ihn streichelte, weil er doch so ein liebes Hundchen sei, ließ Schwester Margit über ihren Rücken hinweg mich wissen: „Ihre Tochter ist schon lange tot. Sie verstehen?“ Ich nickte, ich verstand, diese für sie vernichtende Tatsache hatte Frau Hofer verdrängt. In ihrer Welt gab es so eine böse Wahrheit nicht, die ließ sie gar nicht mehr an sich heran.
„Morgen sehen wir uns wieder, nicht wahr?“, rief sie mir noch zu, während Schwester Margit sie schon am Arm zog, dann hakte sie die alte Dame unter und führte sie den Weg zurück.
Ich sah ihnen noch lange nach und hörte Frau Hofer plappern: „Ich habe wieder so viele liebe Menschen getroffen. Alle sind so lieb wie Sie, Schwester Margit.“ Und Schwester Margit sagte zu allem: „Ja, ja“
Ich blieb stehen, bis die Stimmen leiser wurden und schließlich verklangen. Ich wünschte dieser alten Dame, dass sie nie aus ihrem Traum erwachen muss und die Wahrheit sie nie einholt. Dann wandte auch ich mich um und ging meines Weges mit meinem Hund. Plötzlich wusste ich, welches Schloss sie gemeint hatte. Es konnte nur das alte große Haus sein, oben am Ende der Straße in dem verwilderten Garten. Dieses Haus hatte früher sicher einmal bessere Zeiten gesehen, heute jedoch blätterte dort der Putz ab. Man erzählte sich, es fehle das Geld, um es instand zu setzen. Dort also lebte die alte Frau. Es war ein Pflegeheim, eine Zuflucht sollte es sein, für Menschen, die sich allein im Leben nicht mehr zurechtfanden. Doch wer wünscht sich nicht, dass ihm das am Ende seines Lebens erspart bleibt. Und diese Frau strahlte eine fröhliche Gelassenheit aus, um die man sie fast beneiden könnte. Die Fähigkeit, Schlechtes zu sehen, hatte sie wohl verloren und schmerzender Wahrheit verweigerte sie sich, in ihrer für uns verschlossenen Welt.

Letzte Aktualisierung: 24.06.2012 - 21.37 Uhr
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