Wellensang
Wellensang
Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Sonja B.-Hoffmann IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Verzaubert | Juni 2012
Das Chiffonkleid
von Sonja B.-Hoffmann

Es war ein Zufall. Ich ging die Leopoldstraße entlang, um im Supermarkt Kartoffeln für das Abendessen zu kaufen, als es mich förmlich ansprang. Ich blieb stehen und konnte meinen Blick von dem Schaufenster nicht mehr abwenden.
Ein Hauch von einem Kleid aus korallrotem Chiffon hing an einer goldfarbenen Puppe. Seine dünnen Träger bestanden aus feiner Spitze. Der Ausschnitt in Form eines unfertigen Herzes erschien mir nicht zu gewagt und in einem betörenden Kontrast zum neckisch kurzen Rock, ein absoluter Eyecatcher.
Am Samstag feierte Elena ihren vierzigsten Geburtstag und hatte einige Leute eingeladen. Paul und ich sollten auch kommen. Bis heute hatte ich nicht zu- und nicht abgesagt. Ich schämte mich und Paul…? Er vermied schon lange mit mir jegliche Events.
Tränen schossen in meine Augen. Es hatte keinen Sinn. Ich wandte mich ab und ging ein paar Schritte, doch eine unsichtbare Hand drehte mich um. Das Kleid schillerte in der Mittagssonne und ich begann zu phantasieren. Ich sah mich meine Jeans und den weiten Pulli, der meine knochigen Glieder perfekt kaschierte, ausziehen und den roten Traum überstreifen. Ich spürte sofort eine unbändige Dynamik in meinem Körper, fühlte eine Energie, die jede meiner Muskelfasern ergriff und die bis in meine letzten Gehirnwindungen strömte. Dieses Kleid, ich musste es haben, denn es würde mein Leben verändern, mich verändern und Paul dazu bringen, mich wieder zu lieben, so wie früher.
Ich drückte die Eingangstür zu der kleinen Boutique auf und sah mich um. Der Raum war übersichtlich dekoriert. Eine Verkäuferin in einem tulpenkelchförmigen Rock reichte einer Kundin in die Umkleidekabine eine weiße Bluse. Sie wandte mir ihr perfekt geschminktes Gesicht zu und ich konnte den Schreck in ihren Augen lesen. Sie zwang sich für mich ein Lächeln ab, sagte zur Kundin „Ich bin gleich wieder für Sie da“ und steuerte auf mich zu.
„Was kann ich für Sie tun?“ Ihr Blick huschte über meine eingefallenen Wangenknochen.
„Das rote Kleid. Im Schaufenster. Ich möchte es probieren.“
„Welche Größe? Zweiunddreißig?“
„Ich weiß es nicht!“
Die Verkäuferin legte ihren Kopf etwas schräg. „Zweiunddreißig ist die kleinste Größe, die wir haben. Probieren Sie sie, und wenn das Kleid doch zu weit sein sollte, dann kann unsere Schneiderin es enger nähen, wenn Sie wollen.“
„Danke.“ Ich nickte ihr zu und wartete, während die Verkäuferin zu einem Ständer eilte, an dem noch zwei Exemplare hingen. Zielsicher ergriff sie eines der beiden und deutete zu den Umkleidekabinen. „Die hintere ist frei.“
Sie reichte mir das Kleid, das ich aus einem Impuls heraus an meine Wange hielt. Samtweicher Stoff wie der Flaum von Küken.
„Ich hätte noch im gleichen Rot einen Push-up-BH. Er macht ein sehr schönes Dekolleté.“
„Gerne.“ Ich schlüpfte in die Kabine, drehte mich mit dem Rücken zum Spiegel, damit ich mein Bild nicht sehen musste, zog mich aus und die Verkäuferin schloss mir den Reißverschluss am Rücken.
Schmetterlinge. Ich spürte sie in meiner Magengegend flattern, wie damals als Paul mich zum ersten Mal küsste. Vor Aufregung hatte ich völlig vergessen, seinen Kuss zu erwidern. Mir war schummrig geworden, ich verlor das Gleichgewicht und Paul fing mich lachend auf.
„Du bist toll“, prustete ich, naiv wie ich früher war, hervor. „Ich will ohne dich nicht mehr leben.“
„So, so, das weißt du nach dem ersten Kuss.“
„Ich spüre es einfach“, hatte ich geantwortet und genauso fühlte ich mich jetzt. Ich schlug den Vorhang der Umkleide zurück.
„Ich nehme es.“
„Ich lasse die Schneiderin kommen. Bis morgen ist es fertig.“
„Nein, nicht nötig, es ist perfekt.“ Ich streichelte über das Gewebe. Dann zog ich es aus.
Seit Monaten, nein, seit Jahren hatte ich mich nicht mehr so glücklich gefühlt. Ich wusste plötzlich, dass sich nun alles ändern würde. Paul würde mich wieder mit den Augen eines liebenden Mannes ansehen. Er würde mit seinen Fingern an meinem Hals entlang in meine Haare greifen, mich zu sich heran ziehen und leidenschaftlich küssen.
Ich versuchte mich zu erinnern, wann wir zuletzt auf unserem Ehebett lagen, und Paul mir seinen heißen Atem in meinen Nacken blies. Diese unbeschreibliche Sehnsucht nach seinen Händen, nach seinem Körper. Nun würde sie ein Ende haben.
Ich tanzte nach Hause, die Einkaufstasche mit dem Kleid als Tanzpartner in meinem Arm. Ein Junge schoss eine leere Coladose vor meine Füße. Ich sprang darüber, drehte mich im Kreis, juchzte und zwinkerte dem Kleinen zu.
Zuhause steckte ich den Schlüssel ins Schloss und bemerkte, dass die Haustür nicht mehr versperrt war. Paul war schon da. Mein Herz hüpfte und scheuchte einen Schwarm von Schmetterlingen auf, alle sonnengelb und wunderschön. Sie flatterten, vermehrten sich, füllten meinen Brustraum, so dass ich kaum noch atmen konnte. Ich stieß die Tür auf.
„Paul?“
„Wir sind hier!“
Wir? Ich lief ins Wohnzimmer. Paul stand am Tresen zu unserer offenen Küche und trank einen Cognac. Neben ihm stand Elena. Auch sie hatte ein Glas bereits geleert.
„Hallo Silke!“ Ihre Mundwinkel zuckten zu einem Lächeln, das sofort wieder wie Wasser in Sand versiegte.
„Hallo Elena! Schön, dass du hier bist. Sicher willst du wissen, ob wir zu deiner Feier kommen. Tut mir Leid, dass wir noch nicht Bescheid gesagt haben. Bis heute war ich mir nicht sicher, aber jetzt …“ Ich wusste nicht wie ich es sagen, wie ich es ausdrücken sollte. Ich wusste nur eins, es wird alles gut. Alles.
„… kurz und gut, wir kommen.“
Elena schaute Paul an. Paul stierte auf sein Glas, das er mit beiden Händen umfasst hatte. „Silke, ich…, wir müssen mit dir reden.“
Ich sah seine Hände zittern. Das Zittern erfasste seinen Körper. Er schluckte, holte Luft und stieß sie mit einem Seufzer aus. Wieder fing er an. „Ich…“
Elena legte ihre Hand auf seine. Ich schaute auf die Uhr.
„Es ist halb drei. Ich mache uns einen Kaffee. Ich habe zwar keinen Kuchen da, aber ich könnte uns Waffeln backen. So ein Teig ist ruck zuck fertig. Wasser, Mehl, Eier, etwas Zucker.“
Ich sah, wie sie ihre Hand wieder wegnahm, und ging an ihnen vorbei in die Küche. Aus dem Schrank holte ich das Waffeleisen und eine Rührschüssel.
„Silke, Elena und ich wollen keine Waffeln und du isst sowieso keine.“
„Doch, natürlich esse ich Waffeln. Ich liebe Waffeln. Ich esse auch wieder Kuchen und Schokolade. Morgen koche ich einen Schweinsbraten. Du weißt schon, Paul, mit knuspriger Kruste. Elena kann gerne zum Essen kommen. Übrigens, ich habe mir ein Kleid gekauft, so duftig leicht. Ihr werdet sehen, es schwebt an meinem Körper. Wartet. Ich bin gleich wieder da.“
Ich stellte die Geräte in die Ecke und lief an den beiden vorbei. Sie schauten sich an. Elena nickte Paul zu und sagte dann: „Silke, mache es nicht so schwer.“
„Erst das Kleid. Erst das Kleid!“, rief ich zurück und huschte in das Schlafzimmer, das ich schon lange nicht mehr mit Paul teilte. Ich schlüpfte aus meinen Kleidern und streifte den Chiffon über.
Alles wird gut. Alles wird gut.
Ich strich den Stoff glatt, ordnete die Träger auf meinen Schultern, fuhr mir mit den Fingern durch die Haare.
Dann stellte ich mich vor die Schlafzimmertür, drückte die Schulterblätter zusammen. Gerade stehen. Bauch rein. Brust raus. Bereit für meinen Auftritt.
„Ich komme!“, schrie ich durch die geschlossene Zimmertür. Ich drückte die Klinke herunter, riss die Tür weit auf und schritt hinaus, gleich einem Model, das ich immer sein wollte, rank und schlank und wunderschön.
Mein Blick fiel sofort auf unsere drei Reisekoffer, die nunmehr neben Paul standen. Paul trug seine Lederjacke über dem Arm. Elena stellte gerade die frisch gespülten Gläser in den Schrank.
„Silke“, fing Paul an, “du verschließt ständig deine Augen vor der Realität. Ich ertrage es nicht mehr. Ich werde gehen. Diesmal für immer.“
Elena nahm einen Koffer und Paul die restlichen. Sie gingen zur Haustür. Paul drehte sich nochmals zu mir um. „Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst. Du kannst hier wohnen bleiben, solange du willst.“
Dann fiel die Tür ins Schloss.
„Paul?“
Ich rannte zum Fenster und schaute den beiden nach.
„Das Kleid, Paul, du hast es dir gar nicht angesehen. Es ist wunderschön.“

Endversion.

Letzte Aktualisierung: 26.06.2012 - 08.44 Uhr
Dieser Text enthält 8346 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.