Es war ihm, als liefe er gegen eine Wand, so unerwartet traf ihn ihr Anblick.
Starr stand er, mit halb geöffnetem Mund, und gaffte sie an.
Ihre Locken flirrten silbern um das zart gemeißelte Gesichtchen, der Mund erblühte wie eine Rosenknospe im blassen Teint. Und schienen es nicht durchscheinende Elfenflügel zu sein, die sich da hinter ihr mit dem Sonnenlicht vereinten?
„Carl-Friedrich, nun komm schon!“ Unsanft wurde er am Arm gezogen. Er aber konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. „Carl-Friedrich!“ Die Stimme klang jetzt um einiges schärfer. „Ja, gleich Mama.“ Ein letzter Blick zurück. Ein kleines, heimliches Winken. Da! Hob sie nicht auch ihre weiße, feingliedrige Hand? Dann wurde er unsanft um die Ecke gezogen.
Der laue Nachtwind bewegte spielerisch die Tüllgardine im geöffneten Fenster, trug das Zirpen der Grillen ins Zimmer und umschmeichelte mit den verlockenden Düften des Sommers den unruhigen Schläfer in seinem Bett.
Mit einem Ruck fuhr Carl-Friedrich in die Höhe. Da lag doch ein leises Summen in der Luft? Er wischte sich den Schlaf aus den Augen. Sein Blick wanderte durch den Raum, nahm die vertrauten Gegenstände im Halbschatten des Mondlichtes wahr, blieb an der gebauschten Gardine hängen …
Ja! Er hatte sich nicht getäuscht!
Im Silberlicht des Mondes tanzte seine Elfe vom Nachmittag und summte dabei ein Lied vor sich hin!
Noch schöner schien sie ihm geworden, unirdisch und doch so nah.
Langsam, um sie nicht zu erschrecken, stieg er aus dem Bett und schlich zum Fenster. Er wagte kaum zu atmen, befürchtete, sie zu vertreiben. Doch sie schien gar nicht ängstlich zu sein, lachte ihn an und winkte ihn mit ihrer kleinen, weißen Hand näher.
„Wer bist du, Allerschönste?“, flüsterte er, vor Aufregung ganz heiser geworden. Ein silberhelles Lachen war die Antwort. Dann sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein Glöckchen im Wind: „Ich bin Sperata, die Elfe der Einsamen. Willst du mich nicht näher kennen lernen?“
Carl-Friedrich war mit einem Satz beim Fenster. Seine Brust schien im lautlosen Jubel bersten zu wollen. „O ja, o ja! Komm zu mir herein und erzähle mir von dir!“ Doch sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist uns verboten, der Menschen Behausungen zu betreten. Du musst schon zu mir herauskommen, wenn du mir nahe sein willst.“
Rasch schob Carl-Friedrich die leichten Vorhänge zur Seite, wollte sich ihr zuwenden. Doch Sperata lachte wieder ihr glockenhelles Lachen und schwang sich wie eine Feder in die Höhe, getragen vom Nachtwind. Carl-Friedrich stockte. Verzweifelt rief er aus: „So bleib doch, Elflein! Ich kann nicht fliegen wie du!“ Sie schwirrte ein wenig näher an ihn heran, hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, winkte mit der Hand. „Warum versuchst du es nicht einfach? Vertrau deinen eigenen Kräften! Sieh, ich bin doch bei dir!“
Sie streckte ihm beide Hände entgegen.
Da stieg er entschlossen auf das Fensterbrett, atmete tief durch und ließ sich in die Tiefe fallen. Ihr Lachen fing ihn auf und ihre Elfenflügel fächelten ein Luftpolster unter ihn.
Überirdische Freude flutete durch seinen Körper, er spürte den schmeichelnden Nachtwind auf der Haut, saugte die Düfte des Sommers tief in seine Lungen und spürte zum ersten Mal in seinem Leben das ungebremste, schwerelose Gefühl der Freiheit durch seine Adern fließen.
Carl-Friedrich breitete die Arme aus und gab sich, seine Seele, sein Leben, in die kleinen, weißen Hände von Sperata. Er wusste, es war gut so, wie es war.
Jäh brach das Zirpkonzert der Grillen ab, als ein heller Jubelschrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, die Stille der Nacht zerriss …
Frau Koslowski – Petersen saß völlig übernächtigt am Frühstückstisch und rührte bereits seit mehreren Minuten sichtlich in Gedanken versunken in ihrer Kaffeetasse.
„Claus-Dieter“, begann sie. Doch ihr Gatte blieb hinter seiner Zeitung verschanzt.
„Claus-Dieter!“ Die erhobene Stimme signalisierte Unerfreuliches. Er senkte die Zeitung und sah sie an.
„Ja, Rosalie?“
„Claus-Dieter“, begann sie zum dritten Mal, „wir müssen etwas unternehmen!“
„Ja Schatz?“
„Das kann nicht so weitergehen mit dem Jungen! Gestern konnte ich ihn im Kaufhaus nur mit Mühe daran hindern, eine Schaufensterpuppe abzuschleppen. Heute Nacht hüpft er aus seinem Fenster direkt in den Komposthaufen. Da hätte doch Gott weiß was passieren können! Und jetzt liegt er immer noch im Bett und träumt sich den Tag schön. Ich möchte im Übrigen gar nicht wissen, was das für komische Bonbons sind, die er da auf seinem Nachttisch liegen hat. Hast du die gesehen?“ „Ja Schatz. Wahrscheinlich Traubenzucker. Aber lass doch den Jungen. Er muss sich eben die Hörner abstoßen. Das wird schon alles werden.“ Nach dieser für ihn ungewöhnlich langen Rede verschluckte die Zeitung ihn wieder.
Rosalie stieß ein hysterisches Lachen aus. „Die Hörner abstoßen? Du machst mir Spaß, Claus-Dieter! Carl-Friedrich wird im nächsten Monat fünfunddreißig! Höchste Zeit, dass er endlich mal auf seine eigenen Beine kommt!“