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Verzaubert | Juni 2012
Die Geschichte mit dem Zwerg
von Gerd Schmidinger

Seit dem Unfall mit dem Zwerg waren meine magischen Fähigkeiten zurückgeblieben, unterentwickelt sozusagen, ohne Hoffnung auf Besserung. Das jedenfalls behauptete Obloron, Magierobermeister und Rektor der magischen Akademie, die in den letzten beiden Jahren meine Heimat gewesen war. Hatte ich mich anfangs noch gegen diese seine Deutung meiner schlechten Noten und misslungenen Zaubersprüche gewehrt, so musste ich mittlerweile zugeben, dass doch einiges dafür sprach, dass mich der Zwergenvorfall für alle Zeiten auf das Niveau eines magischen Küchenfreundes oder magieunterstützten Hausmeisters zurückgeworfen hatte.
Doch wenn dem so war, dachte ich trotzig, während ich den Bescheid Oblorons in Händen hielt, der mir den Eintritt in die magische Meisterstufe, wie die beiden letzten Jahre der Akademie genannt wurden, verwehrte; wenn dem so war, dass tatsächlich die Geschichte mit dem Zwerg für all mein Unglück verantwortlich war, ja dann musste ich auch hier ansetzen: dann musste ich einen Weg finden, das geschehene Unheil ungeschehen zu machen.
Das Unheil geschah an einem nebligen Tag nicht unweit meines Elternhauses. Ich hatte kürzlich gelernt, einfache Tiere herbeizuzaubern. Erschaffen konnte ich sie noch nicht, das war ein weit komplizierterer Spruch, einer von der Sorte, wie ich sie nun wohl nie erlernen würde. Aber für meine sieben Jahre war es dennoch nicht schlecht, den einfachen Beschwörungszauber zu beherrschen. Von irgendwoher, vielleicht von der nächsten Wiese, vielleicht aber auch aus den fernen nördlichen Gebirgen, rief ich Tiere aller Art zu mir in den Nachbargarten (zu Hause selbst durfte ich den Spruch nicht anwenden, meine Mutter hatte Angst vor allzu ekligem Getier): Spinnen, Fledermäuse, Ratten, und eines Tages glückte mir mein erstes Huhn. Da ich – einer plötzlichen Eingebung folgend – das Huhn gleich zu meiner Mutter in die Küche brachte, war sie fortan meinen Beschwörungszaubern gegenüber gar nicht mehr so abgeneigt – bis zu jenem Tag, als ich einen Zwerg herbeizauberte. Möglicherweise trug auch die Beschwerde eines unserer entfernteren Nachbarn zu ihrer Verstimmung bei, der sein mehrfach prämiertes Legehuhn Erna beim besten Willen nicht mehr finden konnte...
An dem unglückseligen Tag, als ich den Zwerg herbeizauberte, hatte ich mir vorgenommen, im Schutze des Nebels etwas Neues zu üben: ich wollte mich an größere Tiere wagen. In meiner kindlichen Not, meiner Mutter zu gefallen, hatte ich den Einfall, noch weit mehr zur Ernährung meiner Familie beizutragen als ich es mit Erna schon getan hatte: mit einem wohlschmeckenden Wildschweinbraten. Ich konzentrierte mich, imaginierte meine Essenz auf die zweite Ebene der Magie und murmelte meinen Zauberspruch, während ich in meiner Rechten die glattgeschliffene Axt hielt, mit der ich die Sau zu empfangen gedachte. Bis heute weiß ich nicht, was schief lief, doch die Folgen meines Irrtums begleiten mich bis heute: der kräftige Zwerg, der an Stelle der Sau erschien, reagierte blitzschnell auf die vermeintliche Bedrohung, entriss mir die Axt und hieb mit einer eleganten Drehung auf mich ein. Hätte ich mich nicht im letzten Augenblick geduckt, hätte ich wohl noch mehr verloren als meinen dichten Haarschopf und einen Teil meiner Kopfhaut. So gab sich aber der Zwerg, der wohl bei genauerem Hinsehen erkannte, dass von dem skalpierten Menschenkind keine Gefahr ausging, mit dem Haarschopf zufrieden und verschwand mit hektischen Sprüngen im Nebel, bevor ich auch nur den Versuch machen konnte, ihn wieder heimzuzaubern.
Da die magische Kraft eines Zauberers nach landläufiger Meinung in seinem Haarschopf sitzt, hatte ich ab diesem Zeitpunkt ein großes Problem. Die Haare wuchsen zwar nach, aber einmal geschnitten, hatten die nachwachsenden nur mehr einen Bruchteil der magischen Energie, die dem Erstwuchs innegewohnt hatte. Lange hatte ich geglaubt, dass dies ein Nachteil wäre, mit dem ich zu leben hätte, doch nun – nach dem ablehnenden Bescheid Oblorons – war ich nicht mehr gewillt, mich mit magischen Haarkuren und Zauberextensions zufrieden zu geben: ich musste meinen Haarschopf – den ursprünglichen, das magiedurchtränkte Original – wiederfinden, koste es, was es wolle. Als ich über eine mögliche Strategie nachdachte, taten sich mir zwei Szenarien auf: eine Möglichkeit war, die monatelange und lebensgefährliche Reise anzutreten, die mich zu den hinter den nördlichen Bergen liegenden Zwergenlanden führen würde, über Trollberge und durch Schlammschleichermoore, durch sprechende Wälder und Untotenschluchten.
Die andere Möglichkeit war, den Beschwörungszauber mit einem Zwerg zu versuchen. Ich wägte lange Vor- und Nachteile der beiden Möglichkeiten ab und konnte mich nicht entscheiden. Als ich schon entnervt das Handtuch werfen wollte, fiel mir ein, dass ich eine Münze werfen konnte.
Lange hatte ich den Beschwörungszauber nicht mehr angewandt. Mühevoll kroch meine Essenz auf die zweite magische Ebene und blickte nach unten auf der Suche nach einem ganz bestimmten bösartigen Zwerg, der dunkles Menschenhaar mit sich trug. Nach langem Suchen glaubte ich ihn gefunden zu haben und konzentrierte meine ganze Energie auf ihn, den geheimnisvollen Spruch murmelnd, der ihn zu mir bringen sollte. Einen Augenblick später ging alles ganz schnell. Diesmal hatte der Zwerg die Axt schon mitgebracht. Wie es mir gelang, die Klinge so abzuwehren, dass sie lediglich meinen kleinen rechten Finger abtrennte, vermag ich im Nachhinein nicht zu sagen. Warum der Zwerg wieder reißaus nahm, ebensowenig. Er schaffte es jedoch durch die ganze Akademie bis zu den Toren der Stadt, ehe ihn die Stadtwache erledigte.
Der Verlust des Fingers erwies sich hingegen als Segen. Er beraubte mich jeglicher verbliebener magischer Essenz, ließ jedoch nach langem Grübeln in mir die Gewissheit wachsen, dass die magische Essenz gar nicht in den Haaren des Zauberers residiert sondern vielmehr in seinem rechten kleinen Finger. Diese Erkenntnis, die sozusagen im Selbstversuch gewonnen wurde, ermöglichte mir eine gänzlich neue Karriere sowie die Erfindung einer neuen Wissenschaftsdisziplin, der Biomagierologie, als deren erster Vertreter in professoralem Rang ich ein glückliches und erfülltes Leben führen sollte.

Letzte Aktualisierung: 11.06.2012 - 08.56 Uhr
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