Honigfalter
Honigfalter
Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das?
Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten-
Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Bernd Kleber IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Verzaubert | Juni 2012
Der Traum vom Fliegen
von Bernd Kleber

„Und dann? Wie ging es weiter?“
Sie wischt mit ausgestrecktem Arm die Mundwinkel ab.
„Mit den Stöckelschuhen lief ich den Flur einmal hinauf und einmal hinunter. Das klackerte laut. Sehr laut. Ich versuchte, leise zu gehen. Da sie aber viel zu groß waren, traten meine Hacken genau auf den Spann, was ihnen gar nicht gut tat. Sie brachen.“

Sie tupft mit einem Tuch die Stirn ab.
„Ja, und dann haben Sie das Kleid angezogen?“

„Nein, ich stand vor dem riesigen Kleiderschrank meiner Mutter. Öffnete beide Türen und betrachtete ein Paradies. Kleider mit weit schwingenden Röcken hatten es mir besonders angetan. Und sie hatte ein Großkariertes in leuchtenden Farben. Das streifte ich über. Der Rocksaum, eigentlich eher ein Kurzrock, fiel bei meiner Größe bis auf den Boden. Ich drehte mich vor dem Spiegel und freute mich über die Ellipsen des Stoffes.“

Sie kämmt hierbei das dünne, weiße Haar. Fein wie Gespinst fusselt es um die hohe Stirn.

„Dann stolzierte ich beschwingt ins Bad. Nahm den Lippenstift, kirschrot, von der Ablage und malte meine Lippen nach. Mir wurde schwindelig vor Glück. Das sanfte Wesen mir gegenüber, in dem schönen Kleid, in der aufrechten Haltung, war ich.“

Sie hält den hustenden bebenden Körper ganz fest und fragt: „Dann kam Ihre Mutter?“

„Nein, sie kam erst, als ich mit den Pfennigabsätzen den Estrich im Flur mit vielen bröseligen Löchern versehen hatte. Die Absätze waren durch den Kokosläufer bei jedem Schritt auf den braun gestrichenen Boden geknallt und hatten dort helle Vertiefungen hinterlassen.“


Das Röcheln klingt jetzt sehr bedrohlich. Ein Schwall zähen Schleims will sich durch die Bronchien Bahn brechen. Sie reicht eine Schüssel und fragt: „Soll ich absaugen?“
„Nein, Kindchen, es geht schon, ich muss nur einmal ordentlich abhusten.“
Das breiige Gebilde landet mit feucht klatschendem Geräusch in der Schüssel.
Sie stellt das Gefäß beiseite.

„Aber Sie wollten mir doch erzählen, wie ... „
„Ja, natürlich. Das gehört doch alles dazu. Nicht so ungeduldig, mein Engelchen.“
Sie hebt den schmalen Körper zu sich, schüttelt das Kissen auf und lässt den Kopf wieder in das weiche Gebilde aus Federn sinken.
Matte braune Augen sehen sie an, das Weiß des Augapfels existiert nicht mehr, ist einem gelblichen Grün gewichen.
Dann ein Winken mit flattriger Hand.
Sie lächelt und versteht.
Als Erstes nimmt sie den Konturenstift und setzt an der Oberlippe an. Ihr kleiner Finger stützt sich an dem Kinn ab, das nicht dazu passen will. Die Linie um die Lippen muss sitzen. Dann greift sie nach dem Lippenstift und zieht die goldene Metallhülle ab. Nur dieses Rot darf es sein.
„Ein Rot, wie es Schneewittchen berühmt gemacht hat, Rot wie Blut.“
Lächeln.
Vorsichtig setzt sie den Stift an, die Lippen zittern, der Mund ist leicht geöffnet.
Sie zieht die Lippen nach. Füllt die kraftlosen Streifen mit Farbe bis an den Rand des Konturenstrichs.
„Das gehört sich so, erst die Kontur, dann ausmalen.“ Keuchendes Kichern.
Sie greift den Spiegel und hält ihn vor das eingefallene Gesicht. Ein Nicken, ein kurzes Flackern der Genugtuung in den glanzlosen Augen.
„Und? Erzählen Sie jetzt bitte weiter. Ich kann das Ende gar nicht abwarten.“
„Nein, erst das Lied ...“, nur geflüstert.
Sie steht auf, geht zum CD-Spieler und sucht die CD.
Da ...
Nun legt sie den Silberling ein, skippt vor, zum Titel achtzehn. Die Melodie summt sie sofort mit.

An einem Baum
in dem Park der großen Stadt
hing unter tausenden Blättern ein Blatt.


Sie setzt sich wieder. Hält die schmale Hand, sieht auf die roten Lippen. Das mühselige Lächeln. Verzerrt.

Sang der Nachtwind in den Bäumen
wiegte sich das Blatt in Träumen
von der weiten herrlichen Welt.


Sie schweigt, blickt in das fahle Gesicht mit den geschlossenen Augen. Streichelt die Hand.
Das Atmen hört sich schwer und rasselnd an, als würden Ketten zu der Melodie geschüttelt werden.

Könnt ich nur einmal wie der Wind
Fliegen.


Gleich wird die Chansonnette das „Fliegen ... „ ganz langziehen. Dann wird sie ein breites fratzenhaftes Lächeln sehen. Jedes Mal. Ein Lächeln, das sicher einmal sehr schön war. Das der Schmerz aufgefressen hat, zügellos wie ein gieriges Ungeheuer. Nur noch zu erahnen, wie viel Freude ist.

Mit den Wolken übers Meer,
ach mein Leben gäb´ ich her
Könnt ich Fliegen
Könnt ich Fliegen


Sie schweigt. Sieht dem verzerrten Genuss zu, hört das Rasseln und denkt an ihr eigenes Leben. Wer weiß, was kommen wird? Wer weiß denn schon, wer ihre Hand halten wird?

Bald kam der Herbst
gab dem Blatt sein schönstes Kleid
doch es klagte den Wolken sein Leid:
"Bleiben muss ich und verblühen
Könnt ich mit den Schwänen ziehen
dorthin wo der Sommer nie vergeht..."


Alexandra sang wieder den Refrain mit der Sehnsucht einer ganzen Generation und dazu dieses raumgreifende „Fliegen ...“

Der Kopf in den Daunen wiegt sich hin und her. Diese Arbeit hier, füllt sie aus.

Da rief der Herbstwind: "Du sollst fliegen! Fliegen!"
Und er riss vom Baum das Blatt, trieb es in die große Stadt, ließ es fliegen, ließ es fliegen.


An dieser Stelle wird sie wiederholt melancholisch. Sie beißt sich auf ihre Lippen. Wenn sie ihren Freundinnen erzählen würde, wie sehr sie dieses Chanson liebt, sie würde höhnisches Grinsen und Spötteleien ernten.

Kurz war das Glück
Müde sank das Blatt hinab
auf die Straße, sein regennasses Grab



Das knarrende Atmen macht deutlich, wie voll die Lunge ist. Die Haut um Augen und Nase leuchtet zyanotisch bis zu den Jochbeinen. Der Brustkorb hebt sich unregelmäßig und fällt wieder in sich zusammen wie ein altersschwacher Blasebalg.

Schon am Ende seines Lebens
rief das kleine Blatt vergebens
zu den stummen Häusern hinauf:


Sie umschließt jetzt die Hand ganz fest. Das Gefühl, in das sie jetzt rast wie in ein klebriges Spinnennetz, ist eindeutig.

"Könnt ich nur einmal noch im Wind
Fliegen!
Flög ich hin zu meinem Baum
und vergessen wär der Traum
vom Fliegen
vom Fliegen..."*


Die Ruhe, als der Song endet, ist das Innehalten des Schicksals, bevor es erbarmungslos fordert. Das Atmen ist so flach, dass das Rasseln einem feinem Pfeifen gewichen ist.
Sie wagt keine Bewegung, lässt die Hand nicht los.
Dann spürt sie ein leichtes Ziehen.
Ihren Oberkörper beugt sie vor, bis ihr Ohr fast den Mund berührt. Lauscht dem Wispern:

„Meine Mutter lächelte, als sie vor mir stand ...

...strich mir über die Perrücke ... ihre Blondhaar ...

... hockte sich zu mir ...

... und küsste mich: Ja, Junge, dann bist´e eben verzaubert, ein Verzauberter ...

Dann fiept es noch einmal stark und der Brustkorb hebt sich nicht mehr.


Die Hand streichelt sie, mag nicht die diensthabende Ärztin rufen, um den Schein ausfüllen zu lassen: „ ... an den Folgen einer Lungenentzündung...“



*Liedtext: Alexandra

Letzte Aktualisierung: 14.06.2012 - 21.47 Uhr
Dieser Text enthält 6860 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.